Günther Erb hat die Geschichte der Wirtshäuser in der Dettinger Straße unter die Lupe genommen
Robert Blum und die Obere Vorstadt

Kirchheim. An Stammtischen wird Politik gemacht – oder zumindest besprochen. Die Experten sind diejenigen, die von den Auswirkungen


Andreas Volz

der Politik betroffen sind und die deshalb meinen, es besser zu wissen und es im Zweifelsfall auch besser zu können als „die da oben“. Das ist allerdings kein neues Phänomen. Eigentlich war es schon immer so. Zumindest spricht Günther Erb, der sich intensiv mit der Geschichte der Wirtshäuser in Kirchheim, vor allem in der Dettinger Vorstadt, befasst hat, von einem „Verschwörungszentrum, in dem sich Unzufriedene, Systemveränderer, Revoluzzer und Wutbürger aller Art fanden“. Gemeint ist mit diesem konspirativen Zentrum eine Gastwirtschaft in der heutigen Dettinger Straße 34. Deren Besitzer Johannes Mutschler hatte sich erst kurz zuvor einen prominenten „Namenspatron“ ausgesucht: Robert Blum – Revolutionär, Politiker und eines der bekanntesten Mitglieder der Frankfurter Nationalversammlung von 1848.

Die Politik war im Kirchheimer „Gasthof zum Robert Blum“ also nicht nur das beherrschende Thema, sondern geradezu das Programm für aufrechte Demokraten. Auch die Teilnehmer am Freischarenzug nach Wiesensteig trafen sich regelmäßig „im Blum“, wie Günther Erb ausführt. Nachdem Robert Blum allerdings am 9. November 1848 in der Wiener Brigittenau bei der Vollstreckung eines fragwürdigen Todesurteils erschossen worden war und reaktionäre Kräfte die Oberhand behielten, war es mit den Demokratiebestrebungen in deutschen Landen ebenso vorbei wie mit dem Namen „Robert Blum“ für eine Gaststätte in Kirchheim.

Der findige Johannes Mutschler ließ sich davon allerdings nicht unterkriegen, strich lediglich den Vornamen und fügte dem Nachnamen noch ein „e“ an. Günther Erb, der kürzlich für das Nachbarschaftsnetzwerk „Obere Vorstadt“ einen Vortrag über die Wirtschaften in diesem Kirchheimer Viertel hielt, stellt lapidar zum sichtbaren Zeichen des Namenswandels fest: „Ein harmloser Blumenstrauß zierte jetzt den Ausleger der Schildwirtschaft.“ Trotzdem seien die Gäste weiterhin „zum Blum“ gegangen und nicht „zur Blume“.

Der scheinbar harmlose Name „Blume“ hat sich in Kirchheim bis 1974 als Straßenname gehalten. Nach der Eingemeindung Jesingens allerdings wurde es notwendig, doppelte Straßennamen zu vermeiden. Die Kernstadt verzichte zugunsten des Teilorts auf ihre angestammte „Blumenstraße“, was Günther Erb ausdrücklich bedauert: „Die heutige Blumenstraße in Jesingen verfügt über keinen historischen Hintergrund. Die geschichtsträchtige Blumenstraße der Oberen Vorstadt dagegen wurde in ,Schwabstraße‘ umbenannt.“

Das Gasthaus selbst wurde im Zweiten Weltkrieg geschlossen, wobei Günther Erb lediglich auf einen polizeilichen Befehl verweist, der das Ende gebracht habe. „In der Wirtschaft zur Blume wird seit 1.4.41 nicht mehr gewirtschaftet“, heiße es in einem Brief der Gemeindepolizeibehörde Abteilung Schutzpolizei vom 4. April 1941. Bis 1970 seien in dem Gebäude Elektrogeräte hergestellt worden, anschließend war im Erdgeschoss ein Laden untergebracht. 1983 schließlich musste das gesamte Gebäude einem Neubau weichen. Günther Erb stellt folglich fest, dass nichts mehr an die Blume erinnert, „die hier einst so prächtig geblüht hat“.

Eine mögliche Erinnerung, die es noch geben könnte, war bereits 1981 verschwunden, wie Günther Erb weiter ausführt: „Der Lohrmannskeller auf dem Milcherberg war trotz heftiger Proteste abgebrochen worden. An seiner Stelle wurde die Turnhalle des Ludwig-Uhland-Gymnasiums errichtet.“ Der Lohrmannskeller war der Bierkeller, der zur „Blume“ gehörte. Er wurde wohl auch gelegentlich „Blumenkeller“ genannt. Sein eigentlicher Name allerdings ist zurückzuführen auf den Schwiegersohn Johannes Mutschlers, Richard Lohrmann, der die Gastwirtschaft 1863/64 übernommen hat. Dessen Sohn Gustav Lohrmann führte den Betrieb bis zu seinem Tod 1930 weiter. Anschließend wurde die „Blume“ verpachtet – zuletzt von 1936 bis 1941 an den Koch Pepino Mayer.

Prächtiger Saalbau mit Stuckdecke und Kronleuchtern

Der Name „Lohrmann“ tauchte allerdings nicht nur im Zusammenhang mit dem Keller auf, sondern auch im „Lohrmannssaal“ – dem großen Saal der „Blume“ im ersten Stock, den Gustav Lohrmann 1898 errichten ließ. „Prächtig sei er gewesen, ausgestattet mit einer Stuckdecke und schweren Kronleuchtern“, hat Günther Erb erfahren, und weiter: „Eine Gastwirtschaft mit einem solchen Raumangebot war neu in der Stadt. In der Oberen Vorstadt ragte es über alles weit hinaus, was sonst vorhanden war.“ Erst der Goldene-Adler-Saal habe dem Lohrmannssaal ab 1914 den Rang abgelaufen. Inzwischen ist allerdings auch der Goldene-Adler-Saal längst Geschichte.

Geschichte ist seit längerer Zeit auch das Gasthaus „zum Storchen“, das von 1830 bis 1878 von drei Generationen der Familie Lederer betrieben wurde. Wie bei allen anderen Wirtschaften, stellt sich für Günther Erb auch hier die Frage, was Haupt- und Nebenerwerb der Wirtsleute war. Lederers lebten außer vom Gasthaus auch von einer Bäckerei und von der Landwirtschaft. Und noch eine weiteres historisches Phänomen, das für die meisten Gasthäuser galt, traf auf den Storchen zu: Er diente als Anlaufstelle für die Vorläufer der Speditionen. Das waren „Boten“, meistens Landwirte, die sich durch Botenfahrten ein Zubrot verdienten. 1909, als der Storchen im Besitz des gelernten Metzgers Jakob Kälberer war, stellten drei Boten ihre Wägen beim Storchen unter, solange sie ihre Besorgungen machten. Montags waren dies die Boten Störr aus Erkenbrechtsweiler und Fetzer aus Grabenstetten, während Bote Boßler aus Oberlenningen montags, mittwochs und samstags Station am Storchen machte.

Gegenüber vom Storchen war ebenfalls eine geschichtsträchtige Gaststätte, die einstige Obere Herberge. Im Gegensatz zum Storchengebäude steht dieses Gasthaus aber noch in voller Pracht und erfreut sich heute als „Altes Haus“ größter Beliebtheit bei Stadtführern und Besuchern Kirchheims. Vor dem Oberen Tor gelegen, wird die Obere Herberge erstmals 1492 schriftlich erwähnt. Günther Erb berichtet von einem Kuriosum aus dem 16. Jahrhundert, das heute größtes Erstaunen auslösen würde: „Für frisch überzogene Betten wurde ein Aufgeld berechnet.“ Zu dieser Zeit hielten auch Gericht und Rat Einkehr in der Oberen Herberge, wie Günther Erb einer Bürgermeisterrechnung entnommen hat. „Essen und Trank genossen sie nach alter Sitte auf Kosten der Stadt, die gefassten Beschlüsse wurden darüber hinaus mit einem tüchtigen Umtrunk bekräftigt.“

In späteren Zeiten war der gemeinsame Umtrunk aber nicht mehr so rühmlich. So berichtet Günther Erb auch von der Klage des Dekans Karl Ludwig Weitzel aus dem Jahr 1851: „Da sitzen, und namentlich am Sonntag, junge Leute, die kaum den Knabenjahren entwachsen sind, ohne Aufsicht der Eltern und Dienstherren, zechen, rauchen, spielen, trinken.“ Unter anderem deshalb sei 1868 der evangelische „Jünglingsverein“ gegründet worden, aus dem sich später der Christliche Verein Junger Menschen (CVJM) entwickelte. Weil Alkohol in diesen Vereinen verpönt war, seien die „Jünglingsvereine“ gelegentlich auch als „Süßwasserclubs“ bezeichnet worden.

Es dürfte aber nicht auf diesen einen Kirchheimer „Süßwasserclub“ zurückzuführen sein, dass von den vielen Wirtschaften, die Günther Erb für die Zeit um 1900 aufzählt, nur noch eine erhalten ist: Das „Rössle“, das 1684 erstmals als „Herberge zum Pflug“ auftaucht und seit 1752 ununterbrochen den Namen „Rössle“ führt. Zwar sind inzwischen weitere Gast- und Schankwirtschaften hinzugekommen. Günther Erb stellt sich aber die zeitlose Frage, wer mittlerweile dort wohl politisieren mag: „Wer sitzt denn heute in den fünf Lokalen der oberen Vorstadt? Sind es Leute aus anderen Stadtteilen oder von auswärts? Oder sitzen hier Leute aus der Umgebung und kommunizieren, wie das früher in den 13 Lokalen der Fall war?“ Abschließend stellt Günther dazu nur eines fest: Es gebe „mehr Fragen als Antworten“.