Mit fünf Meter hoher Nivellier-Latte klären LUGler den rätselhaften Zusammenhang zwischen drei Kirchen in Palermo
Schüler üben sich in sphärischer Trigonometrie

Welche Geheimnisse bergen die Kirchen in Palermo, darunter auch der weltbekannte Dom von Monreale? Dieser Frage gehen Schüler des LUG mit ihrem Lehrer Martin Kieß nach.

Kirchheim. Während die Christen in den ersten Jahrhunderten immer in Richtung des nach ihren Vorstellungen ganz im Osten der Welt liegenden Paradieses zu beten hatten – auch wenn sie östlich des Heiligen Landes lebten –, beten die Muslime schon immer in Richtung Mekka. Die muslimische Gebetsrichtung, die sogenannte Qibla, ist demnach vom Standort abhängig. Im Internet sind Qibla-Rechner installiert, die unmittelbar nach Eingabe des Standortes die Qibla angeben. In Kirchheim zeigt sie in Richtung 127,31 Grad, das heißt, sie weicht um 127,31 Grad von der geografischen Nordrichtung in Richtung Osten ab.

Die frühen Christen hätten an sich immer in Richtung geografischer Osten, der um 90 Grad von der Nordrichtung abweicht, beten müssen. Das taten sie aber meistens nicht, denn sie beteten in Richtung des jeweiligen Sonnenaufgangs, der je nach Jahreszeit in hiesigen Breiten bis um 40 Grad von Osten abweicht, also eine Abweichung von 50 bis 130 Grad von der Nordrichtung haben kann. So wurden auch die meisten Kirchen bis ins späte Mittelalter in Richtung eines bestimmten Sonnenaufgangs orientiert.

Die Hauptachse der Kirchheimer Martinskirche etwa zeigt in Richtung des Sonnenaufgangs am Gallus-Tag, dem 16. Oktober, in einem Jahr zwischen 1100 und 1200. Sie weicht um 110 Grad von Norden in Richtung Osten ab und von der Qibla um 17,31 Grad in Richtung Norden. Die Hauptachse des innerhalb der nächsten 40 Jahre noch zu bauenden Klosterbezirks bei Meßkirch, des sogenannten Campus Galli, wurde von den Schülern des Ludwig-Uhland-Gymnasiums am Petrus-in-Ketten-Tag, am 1. August 2012, in Richtung des Sonnenaufgangs festgelegt. Die Achsenrichtung weicht um 61,5 Grad von Norden in Richtung Osten ab.

Während bei den Christen die Gebetsrichtung immerhin an den Tagen um den Orientierungstag ihrer Kirche mit der Richtung der Kirchenachse übereinstimmte, gilt dieser Zusammenhang für Moschee und Qibla nicht. Moscheen, auch in den arabischen Ländern, sind an sich nie in Richtung Mekka ausgerichtet. Deshalb ist in jeder Moschee die Qibla als von der Moschee-Achsenrichtung unabhängige Richtung markiert.

Je weiter der Standort im Süden liegt, desto kleiner wird die Abweichung der Qibla von Norden.

In Palermo und seiner Umgebung, das spätestens seit dem 11. Jahrhundert immer unter arabischem Einfluss steht, hat der Muslim nur noch in Richtung 118,66 Grad zu beten. Dagegen haben sich die Richtungen der Kirchenachsen kaum verändert, wenn die Kirchen auch teilweise in Moscheen eingebaut wurden.

Es fällt aber auf, dass die berühmteste Kirche von Palermo, die Kathedrale, in der sich die Grabmale zweier Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation befinden – Heinrich IV. und Friedrich II. – nicht in Richtung eines Sonnenaufganges orientiert ist. Ihre Achse weicht nur 56 Grad von der Nordrichtung ab, dagegen weicht die Richtung der Sonnenaufgänge um mindestens 59 Grad von der Nordrichtung ab. Also nicht einmal der Sonnenaufgang am Tag, an dem es am längsten Tag ist und die Sonne am weitesten nördlich aufgeht, also am 21. Juni, eignet sich für die Orientierung der Kathedrale. Da auf dem Boden des östlichen Langhauses seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts der Meridian Palermos kunstvoll angebracht ist, der genau von Süden nach Norden das Kirchenschiff durchquert, ist die Richtung der Kirchenachse als die Abweichung vom Meridian mithilfe eines Kompasses ganz gut bestimmbar, aber mit dem Theodoliten sehr exakt.

„Warum ist ausgerechnet die Kathedrale von Palermo nicht nach einem Sonnenaufgang orientiert?“, fragten sich daher Martin Kieß und seine Schüler. Seit den 1980er-Jahren besuchen Schüler-Gruppen unter der Leitung des Mathematiklehrers Sizilien, insbesondere Palermo. Doch erst seit vier Jahren gehen die Kirchheimer der ungewöhnlichen Achsenrichtung der Kathedrale nach. Zunächst vermuteten sie, dass der Bauherr, Bischof von Palermo, Gualtiero – der ab etwa 1175 das Kirchengebäude von arabischen Baumeistern auf den Fundamenten einer Moschee errichten ließ – es in Richtung eines bedeutenden Fixsterns orientieren ließ, so wie es die Ägypter beim Bau ihrer Pyramiden getan hatten. Aber dann fiel den Schülern ganz oben am Rand der Conca d‘Oro, im über 300 Meter hoch gelegen Monreale, acht Kilometer von der unten am Meer stehenden Kathedrale entfernt – aber mit Ferngläsern bewaffnet, etwas auf: Die Kathedralen-Achse könnte ziemlich genau auf die Apsis des Domes von Monreale, der ab den Sechzigerjahren des 12. Jahrhunderts im Entstehen war, zeigen.

Später fiel der Gruppe auf einem der Kirche San Giovanni degli Eremiti benachbarten Turm auf, dass die Achse der viel kleineren Kirche, die ab 1140 so wie die Kathedrale aus einer Moschee entstanden war, vermutlich ebenfalls in Richtung der Apsis des Domes von Monreale zeigt.

„Es ist zu beachten, dass nicht gemeint ist, die Achsen der am Meer liegenden Kirchen würden auf den wesentlich höher gelegenen Dom von Monreale treffen“, sagt Martin Kieß. Sie würden auf ihn treffen, wenn die drei Kirchen auf gleicher Höhe über dem Meer liegen würden. „Es ist an sich gemeint, dass die gedachten, unendlich ausgedehnten Ebenen, die senkrecht auf den Grundrissen der Kirchen stehen, die die Achsen enthalten und die Kirchengebäude symmetrisch in zwei gleich große Hälften zerlegen, sich in der Apsis des Domes von Monreale treffen“, erklärt der Lehrer. Rätselhaft erschien den Schülern zudem, dass zuerst San Giovanni degli Eremiti errichtet wurde, dann der Dom von Monreale und schließlich die Kathedrale von Palermo.

2013 und 2014 gelang den LUG-Schülern endlich, ihre Vermutungen zu bestätigen und den rätselhaften Zusammenhang zwischen den drei Kirchen zu klären. „Wir konnten zeigen, dass der Dom von Monreale für mindestens drei Kirchen Palermos so etwas ist wie die Kaba in Mekka für die muslimische Welt und es in Palermo eine Art christliche Qibla gab“, so der Mathematiker. Zuerst wurde die Kirche im Tal errichtet, San Giovanni degli Eremiti, deren Patron Johannes der Täufer ist. Die Achsenrichtung wies auf den Hügel, auf dem erst 25 Jahre später der Dom von Monreale errichtet werden sollte. „Vorher muss aber dort oben eine Johannes-der-Täufer-Kapelle gestanden haben, auf die nun die neue Johanneskirche hinwies“, ist sich Martin Kieß sicher. Noch vor 1170 wurde anstelle der Kapelle der heute weltberühmte Dom von Monreale – für viele eine der schönsten Kirchen der Welt – errichtet, der auch heute noch eine Johannes-der-Täufer-Kapelle in sich birgt, aber auch die Gräber der Normannenkönige Wilhelm I. und Wilhelm II. Schon ab 1175 wurde im Tal die neue Kathedrale so erbaut, dass ihre Achse genau auf den Dom von Monreale zeigt. „Wichtig ist auch, dass die Verbindungslinie das Normannen-Schloss La Cuba schneidet“, sagt Martin Kieß.

Aber nicht nur die Kathedrale und San Giovanni zeigen mit ihren Achsen auf den Dom. Die wie die Kathedrale ab 1175 entstandene Normannen-Kirche Santo Spirito, östlich der mittelalterlichen Stadt gelegen, zeigt mit ihrer Achse nicht nur genau auf den Dom von Monreale, sondern beide Kirchen besitzen dieselbe Achsenrichtung. „Und die gemeinsame Achse zeigt auf die erste von den Normannen in Palermo erbaute Kirche San Giovanni dei Lebrosi, die ab 1080 für die Aussätzigen außerhalb der Stadt entstanden war“, weiß der Lehrer.

„Dass wir diesen relativ komplizierten Zusammenhang zeigen konnten, ist vor allem zwei Mitarbeitern des Vermessungsamt von Palermo zu verdanken, Bruno Indelicato und Carlo Ricevuto“, freut sich Martin Kieß. Nach mehreren Besuchen im Vermessungsamt wurden den Deutschen überraschender Weise ihre Wünsche bewilligt und sie erhielten von sämtlichen normannischen Kirchen wichtige Eckpunkt-Koordinaten der Grundrisse – jedoch nicht nur eine Sorte von Koordinaten, sondern für den Großteil der Kirchen sogenannte Cassini-Soldner-Koordinaten. „Schwer überbrückbare Schwierigkeiten entstanden dann bei dem Versuch, die Cassini-Soldner-Koordinaten in Gauss-Boaga-Koordinaten umzurechnen, da jede Koordinaten-Art auf einem anderen speziellen Erd-Ellipsoid beruht, die uns aber immer noch nicht bekannt sind“, zeigt Martin Kieß eine weitere Herausforderung auf, denn jedes Ellipsoid ergibt andere Ergebnisse, die aber nicht weit auseinanderliegen.

Umfassenden Rat erteilte Dr. Friedrich Wilhelm Krumm vom geodätischen Institut der Universität Stuttgart. Von ihm wissen die Schüler, dass die Kenntnis des verwendeten Ellipsoids entscheidend ist. „Da uns vom Vermessungsamt in Palermo leider bis heute immer noch nicht mitgeteilt wurde, welche Ellipsoide in Palermo zugrunde gelegt werden, können wir zurzeit noch nicht mit optimaler Genauigkeit unsere Berechnungen durchführen“, bedauert der Lehrer.

Mit den von Palermo erhaltenen Koordinaten konnten Schüler – obwohl sie die Ellipsoid-Art noch nicht kennen – unter Berücksichtigung der Meridian-Konvergenz die Achsenrichtungen der normannischen Kirchen und der normannischen Paläste in Palermo rechnerisch bisher nur innerhalb eines Unsicherheits-Intervalls bestimmen, ebenso die Richtungen der Verbindungslinien zwischen den einzelnen Kirchen. Um aber sicherzugehen, ob die errechneten Werte wirklich stimmen oder ob sie zu korrigieren sind, bestimmten sie unabhängig von den zur Verfügung gestellten Koordinaten mithilfe des in der Kathedrale von Palermo angebrachten Meridians zunächst die Achsenrichtung der Kathedrale. Für die anderen Kirchen warteten sie mit einer fünf Meter hohen Nivellier-Latte als Schattenstab und einer genau gehenden Uhr so lange, bis der Schatten der Latte möglichst genau in Richtung der Kirchenachse zeigte. „Der Zeitpunkt der identischen Richtungen lieferte mithilfe sphärischer Trigonometrie die Richtung, in der die Sonne sich zu diesem Zeitpunkt befand, und damit hatten wir auch die Achsenrichtungen. Leider ist diese Methode davon abhängig, dass die Sonne scheint“, zeigt Martin Kieß die Nachteile auf. Das Wetter verschlechterte sich prompt in den letzten Tagen des Aufenthaltes in Palermo, und die Sonne fiel damit als Hilfestellung für drei Kirchen aus. Dies soll nachgeholt werden. „Immerhin konnten wir mit dem Schattenstab die Richtungen der für uns wichtigsten Kirchen bestimmen, die nun doch mit den errechneten Werten erstaunlich gut übereinstimmen“, freut sich der Mathematiker. Dies sind vor allem der Dom von Monreale, San Giovanni degli Eremiti, Santo Spirito und San Giovanni dei Lebrosi.

Von den restlichen Normannen-Kirchen ist vor allem Santa Maria Maddalena für die Schüler bemerkenswert gewesen. „Wir hatten schon einen Termin für die Bestimmung der Achsenrichtung, der interessanterweise davon abhängig war, dass der leitende Offizier, ein General der großen Carabinieri-Kaserne, innerhalb dessen Innenhofs heute die Kirche liegt, anwesend war“, erzählt Martin Kieß von den Besonderheiten der Reise. Wegen des schlechten Wetters mussten sie jedoch den Termin absagen. ih