Kirchheim. Der gewährte Blick in menschliche Abgründe hätte nicht vielschichtiger und kontrastreicher, a
ber auch nicht interessanter und aufschlussreicher sein können.
Wenn aus zarter Liebe blindwütiger Hass wird, der in von Eifersucht verblendeter Raserei den Tod eines einst vergötterten Menschen billigend in Kauf nimmt, sind alle moralischen Grenzen gefallen. Auch wer „nur“ in Gedanken tötet oder töten lässt und nur der Kunst wegen eine Geschichte im Sinne Dürrenmatts „bis zum schlimmstmöglichen Ende“ weiterdenkt, bewegt sich in einem fragwürdigen,
aber ungemein spannenden Grenzbereich.
Auf Lew Tolstoi und seine stets
loyale und doch sehr streitbare Frau trifft das zweifellos zu. Im Haifischbecken ihres Ehehafens herrschte unentwegt, was Tolstoi in einem der bedeutendsten Werke der Weltliteratur so eindrucksvoll bearbeitete, dass es seinen Weltruhm bis heute begründet: „Krieg und Frieden“. Gedruckte Trivial-Literatur und seriell versendete Seifenopern verdanken dem darin immer wieder bemühten Dreiklang aus Liebe, Leidenschaft und Eifersucht so unzählige wie unsägliche Werke. Die beiden im Buchhaus Zimmermann an zwei Abenden literarischer Begegnungen vorgestellten Meisterwerke können dagegen ihre wahre Qualität vor allem dann uneingeschränkt ins richtige Licht rücken, wenn man sie aus der Kenntnis des jeweiligen Gegenstücks vergleichend beurteilt.
Auch wenn es nicht leicht ist, Tolstois „Kreuzersonate“ und Sofja Tolstajas „Eine Frage der Schuld“ moralisch zu bewerten, lassen sie sich literarisch besser einordnen. Bei allen unübersehbaren autobiografischen Quellen sind und bleiben sie faszinierende Fiktion und sind – bei allem geschilderten menschlichen Leid und Fehlverhalten – beide in ihrer Art herausragende Meisterwerke.
Nachdem Rudolf Guckelsberger Tolstois Perspektive präsentiert und zum näheren Verständnis dazu Ludwig van Beethovens auch in der Musik unsterblich gewordene „Kreuzersonate“ eingespielt hatte, bestand durchaus Grund zur Sorge, eine Steigerung dieser emotionalen Annäherung an einen zwischen Buchdeckeln tobenden Ehekonflikt könne es nicht mehr geben.
Die Schauspielerin Ulrike Götz stellte sich nun bravourös der Herausforderung, auch Sofja Tolstajas ein Jahrhundert lang vor der Öffentlichkeit verborgen gebliebenen Worte überzeugend Gewicht zu verleihen und ihnen ein Gesicht zu geben. Sie kontrastierte geschickt die zuvor ausgebreiteten Einblicke in die Psyche eines fiktiven „Helden“ mit der subtileren und emotionsträchtigeren weiblichen Sicht von Tolstois Frau Sofja auf eine lange währende Liebe, die – wie in einem Kästnergedicht – plötzlich abhanden gekommen war, wie ein Stock oder Hut.
Allein mit dem Timbre ihrer Stimme und der Präzision ihres Vortrags konnte Ulrike Götz der niemals wehleidig, anklagend oder gar beleidigt daherkommenden hochrangigen Gegendarstellung von Sofja Tolstaja das ihr zustehende Gewicht geben. Chapeau!
Besonders interessant wird das an zwei Abenden mit professioneller Vortragskraft erfolgreich entwickelte Gesamtkunstwerk nicht nur aus dem direkten Vergleich heraus. Die beiden virtuos kontrastierenden Darstellungen eines fiktiven Geschehens um einen blindwütigen Mord aus rasender Eifersucht bleiben sich nichts schuldig beim Einsatz der autobiografischen Daten der jeweils handelnden Personen. Lew Tolstoi war tatsächlich ungemein eifersüchtig, stürzte tatsächlich in eine schwer nachvollziehbare Lebenskrise und entfernte sich auch im wahren Leben immer mehr von seiner trotz allem lange zu ihm haltenden Frau – wenn auch zunächst „nur“ in seinen „Schriften und Predigten an die Menschen“.
Wie Olga Martynova in ihrem Nachwort in der empfehlenswerten Manesse-Doppelausgabe der beiden Romane schreibt, gab es in Sofja Tolstajas wahrem Leben wirklich einen Menschen, der es verstand, sie „mit seiner Kunst so zu beeindrucken, dass sie ihn bis zur Ohnmacht verehrte“. Es handelte sich dabei um den bekannten Komponisten und Klaviervirtuosen Sergej Tanejew, der lange Zeit nicht ahnte, welches Drama er verursachte.
Besonders pikant ist dabei die Tatsache, dass sich Sofja Tolstajas grenzenlose „Schwärmerei“ für diesen charismatischen Künstler erst etwa sechs Jahre nach der Niederschrift der „Kreuzersonate“ und damit auch erst klar nach Abschluss ihres einfühlsamen Gegenromans entwickelte, der wie Sibylle Mockler deutlich machte, nie für eine Veröffentlichung gedacht war. Nachdem Sofja Tolstaja „in Teilen als Vorbild für die weibliche literarische Hauptfigur vom eigenen Mann missbraucht“ wurde, sollte er vielmehr im Gegenzug „am eigenen Leib spüren, wie es ist, wenn man für eine literarische Figur verwendet wird“.
Dass diese spitzen Pfeile tatsächlich ihr Ziel nicht verfehlt haben dürften und als „schallende Ohrfeige landen und Wirkung zeigen“ konnten, machte Ulrike Götz in ihrer Lesung des mit vielen Parallelen und Andeutungen aus Tolstois Leben gespickten Romans deutlich. Gegen dieses warmherzige Scherbengericht aus weiblich-verstehender Sicht hatte „Tolstoi“ Rudolf Guckelsberger mit seinem von männlicher Eifersucht getrübten Tunnelblick eigentlich keine Chance – trotz der zu Hilfe gerufenen und den angeblichen Ehebruch untermauernden Kraft verführerischer und betörender Musik.