Wilhelm Braun hat Erinnerungsstücke seines Vaters Christian und seines Onkels Johannes aus Hepsisau aufbewahrt
„Schwäbischer Gruß“ an den Thronfolger

Weilheim. Wilhelm Braun wohnt zwar in Weilheim, ist aber ein echter Hepsisauer. Außerdem ist er sehr interessiert an der Heimatgeschichte.


Das war allerdings nicht immer so, denn – so berichtet der 77-Jährige heute: „Mein Vater hat immer wieder vom Krieg erzählt. Aber wenn man jung ist, will man das gar nicht so wissen.“ Ähnlich sei das mit den Ahnentafeln, die er heute erstellt und erweitert: „Solange man die Eltern fragen kann, fragt man nicht, und irgendwann ist es zu spät.“ Das heißt aber nicht, dass Wilhelm Braun gar nichts mitbekommen hätte von der Soldaten-Vita seines Vaters Christian. Im Gegenteil, er hat eine beachtliche Materialsammlung, und außerdem hat er Fotos und Bücher vorbildlich beschriftet.

Seinem „Militärpaß“ zufolge hat der Musketier Christian Friedrich Braun am 21. November 1916 als 18-Jähriger seinen Dienst als Rekrut angetreten. Unter der Rubrik „Stand oder Gewerbe“ findet sich einmal der Eintrag „Bauer“, ein anderes Mal steht dort „Dienst-Knecht“. Insgesamt vier Mal wird ihm in diesem Dokument bescheinigt, dass er sich ordentlich benommen hat: „Führung: gut – Strafen: keine“ heißt das militärisch-amtlich, kurz und knapp.

Als „Besondere militärische Ausbildung“ wird dem Musketier aus Hepsisau per Stempeleintrag bescheinigt: „ist mit Gewehr 98 ausgebildet“. Dieses Gewehr stammt vom Oberndorfer Waffenhersteller Mauser, wurde aber nicht etwa nur im heimatlichen Württemberg verwendet. Laut Wikipedia war es „das Standardgewehr der deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg“. Wesentlich bekannter als deutsche Standardwaffe des Ersten Weltkriegs ist freilich das in Berlin-Spandau hergestellte Maschinengewehr „08/15“, das es im deutschen Sprachraum zum Synonym für „durchschnittlich“ gebracht hat. Das Prinzip der Benennung ist jeweils dasselbe: Die Typenbezeichnung kennzeichnet das Jahr, in dem die Waffe erstmals hergestellt oder auch entscheidend verändert wurde. Das „Gewehr 98“ also war derselbe Jahrgang wie Christian Braun, der an eben diesem Gewehr ausgebildet worden war.

Was aus heutiger Sicht nicht gerade sehr modern wirkt, diente damals tatsächlich der Nachrichtenübermittlung: Anfang August 1918 war Christian Braun „z. Brieftaubenschlag 297 kommandiert“, wie aus seinem Militärpass hervorgeht. Zur selben Zeit erhielt er das „E.K. II.“, ohne dass in dem Dokument allerdings ein Grund dafür genannt wird. Zweieinhalb Monate später geriet Christian Braun in englische Gefangenschaft. Im Militärpass ist das aber so nicht vermerkt. Vielmehr steht dort unter dem Stichwort „Abgang“: „Seit 17.10.18 vermißt bei St. Bénin“.

Saint Bénin liegt im französischen Departement „Nord“, also in Französisch-Flandern, „südöstlich Cambrai“. An dieser Stelle kommt eine zweite schriftliche Quelle ins Spiel, die in der Familie Braun erhalten geblieben ist: ein 160 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Das Württem-
b[ergische] Res[erve] Inf[anterie] 
R[e]g[imen]t N[umer]o 120 im Weltkrieg 1914 – 1918“, das bereits 1920 in Stuttgart erschienen ist.

Christian Braun hat genau in dem Kapitel „Südöstlich Cambrai.      5. bis 18. Oktober 1918“ handschriftlich vermerkt, dass er zu den im Buch genannten „366 Mann vermißt“ zählte, die bei „Verlust des unglücklichen 17. Oktober“ außer insgesamt 25 Toten und 91 Verwundeten aufgeführt sind. Interessant ist, dass „Mann“ die einfachen Soldaten bezeichnet, während Offiziere extra herausgehoben sind. Der Vollständigkeit halber sind also noch sieben vermisste Offiziere zu erwähnen. Zu den Vermissten heißt es im gedruckten Text weiter: „Niemand bezweifelte, daß auch von den letzteren [= den Vermissten] der größte Teil tot oder verwundet draußen liegen würde.“ Bei Christian Braun zumindest lag der Fall anders, wie aus der erwähnten handschriftlichen Randbemerkung im Buch hervorgeht: „17. Oktober 1918           Ich kam dabei in englische Gefangenschaft“.

Zurück zum Militärpass: Warum Christian Braun darin als vermisst eingetragen ist, erschließt sich nicht. Möglicherweise hat er den Pass nicht bei sich gehabt, als er in Gefangenschaft geriet. Heute noch jedenfalls liegen dem Pass lose „Erweiterungsseiten“ bei, auf denen das Ende seiner militärischen Dienstzeit im Ersten Weltkrieg geschildert wird – knapp elf Monate nach dem Waffenstillstand. „Am 29.9. 19 aus engl[ischer] Gefangenschaft im Dulag. Göttingen eingetroffen. Am 1.10.19 von dort in die Heimat nach Hepsis­au, O[ber]A[mt] Kirchheim [...], aus dem Heeresdienst entlassen.“ Die Abkürzung „Dulag.“ steht für „Durchgangslager“. Schließlich befindet sich noch ein interessanter Nachsatz auf dieser Seite, gerade was die persönliche Situation der Soldaten nach Krieg und Gefangenschaft betrifft: „Ist über Versorgungsansprüche belehrt, erhebt solche nicht.“

Der Krieg war damit aber noch nicht vorbei im Leben des Christian Braun. Sein Sohn Wilhelm berichtet nämlich, dass der Vater seither der Wehrüberwachung unterlag und prompt im August 1939 wieder einen Stellungsbefehl erhielt. Er war also gleich zu Beginn am Zweiten Weltkrieg beteiligt, wurde aber schon nach dem „Polen-Feldzug“ – unter diesem zeitgenössischen Begriff ist der Überfall auf Polen im Familiengedächtnis geblieben – wieder nach Hause entlassen. Bei Faber & Becker in Weilheim war Christian Braun offensichtlich unabkömmlich bei der Herstellung kriegswichtigen Materials: Wilhelm Braun spricht von Zeltplanen, die damals in Weilheim produziert wurden. Erst 1944 kam sein Vater wieder als Soldat nach Frankreich, und im April 1945 zählte er zu einem Volkssturmaufgebot, das von Weilheim aus nach Nürtingen geschickt wur­de. Mit einem
 beherzten Sprung in den Straßen-
graben hat er sich damals gerettet und somit immerhin zwei Weltkriege überlebt. Erst 1986 ist er im Alter von 88 Jahren gestorben.

Christian Braun war allerdings nicht der einzige aus seiner zwölfköpfigen Geschwisterschar, der als Soldat im Ersten Weltkrieg zum Einsatz kam. Insgesamt waren fünf Brüder im Krieg, eine Zeit lang sogar alle fünf zur gleichen Zeit. Christian war der jüngste von ihnen. Einer der Brüder habe einen Knieschuss erhalten, erinnert sich Wilhelm Braun. Er habe davon für den Rest des Lebens einen „steifen Fuß“ zurückbehalten.

Der älteste Bruder – Johannes Braun – indessen war der einzige der fünf, der im Ersten Weltkrieg ums Leben kam. Dabei hatte er es eigentlich ganz gut erwischt, wie sein Neffe Wilhelm Braun berichtet. Er muss gar nicht an vorderster Front im Einsatz gewesen sein. „Onkel Johannes war gelernter Schuhmacher und als Kompanie-Schuster tätig.“ Am 5. Mai 1918 ereilte den 30-jährigen Johannes Braun allerdings doch sein Schicksal: „Vom Urlaub zurück nach Frankreich wurde der Zug (Eisenbahn) beschossen und Onkel Johannes tödlich verletzt.“ So hat es Wilhelm Braun auf die Rückseite des Mannschaftsfotos geschrieben, das aus Johannes Brauns Militärdienstzeit in Ulm in den Jahren 1908 bis 1910 stammt. Das Bild weist auch die damals üblichen pathetischen Parolen auf wie zum Beispiel „Mit(t) Gott für Kaiser und Reich“.

Dem Buch von 1920 hat Wilhelm Braun entnommen, dass die Verluste unter den württembergischen Truppen mit am höchsten waren, auch unter den Offizieren. „Die sind damals vorne draus“, stellt er fest und ergänzt: „Da gab es dann später Führungsprobleme, weil die Offiziere fehlten.“ Harte Kämpfe seien in dem Buch beschrieben, „Mann gegen Mann“. Dann aber gebe es auch sehr menschliche Berichte, etwa über die Waffenruhe in der ersten Kriegsweihnacht, die vor allem deutsche und britische Soldaten in Flandern spontan und ohne Befehl beschlossen und eingehalten haben.

Als „nette Anekdote“ bezeichnet Wilhelm Braun die Geschichte von einem abhörsicheren Gespräch, die er in dem Buch gefunden hat: „Da mussten sich zwei Urschwaben miteinander unterhalten, damit die Franzosen nichts verstehen konnten.“ Eine weitere nette Geschichte ist in einem abgedruckten Brief zu finden: Nach einer Parade vor Herzog Albrecht, dem württembergischen Thronfolger, kam ein Oberstleutnant auf die Idee, dem Heerführer am nächsten Sonntag Laugenbrezeln in sein Quartier schicken zu lassen, weil ihm diese so gut geschmeckt hatten. Im Brief heißt es wörtlich; „Denn so was G‘scheuts, wie d‘Laugebretzle, bringet Preiße net z‘wege und der Herzog ist bei lauter Preiße.“ Un­glück­licherweise aber war für die Brezel-Sendung an jenem Sonntag der Stellvertreter des Oberstleutnants verantwortlich, ein Major aus Sachsen, und dieser soll in den Begleitbrief an den württembergischen Thronfolger geschrieben haben: „Schwäbischer Gruß“.

Wilhelm Braun weiß außerdem noch zwei Begebenheiten zu erzählen, die ihm direkt von seinem Vater bekannt sind. Sie haben weniger mit dem Krieg als solchem zu tun, als vielmehr mit dem Leben im Dorf vor hundert Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hepsisau mag dabei stellvertretend für viele andere Dörfer stehen – ob in Württemberg, im Deutschen Reich, in Österreich-Ungarn oder auch in Frankreich, Großbritannien oder Russland. Schon als Christian Braun mit 18 nach Esslingen in die Kaserne kam, muss das für ihn eine besondere Begegnung mit den Errungenschaften des modernen Zeitalters gewesen sein, die er von zuhause nicht kannte: Schließlich ging es mit der Eisenbahn nach Esslingen, und dort in der großen Stadt gab es außerdem elektrisches Licht.

Und in Frankreich bei einer Einquartierung sei ihm etwas ganz Besonderes widerfahren, was ihn stark beeindruckt hat, wie sein Sohn Wilhelm Braun berichtet: „Da durfte er zum ersten Mal in seinem Leben in einem weiß überzogenen Bett schlafen. Das ist ihm im Gedächtnis haften geblieben. Das hat er oft erzählt.“