Immer mehr Arbeitnehmer fühlen sich erschöpft – Präventionsangebote auch in Betrieben
Schwieriger Kampf gegen Burn-out

Ob Stressreport der Bundesregierung oder Statistiken der Krankenkassen – die Botschaft ist stets die gleiche: Immer mehr Arbeitnehmer leiden unter Erschöpfung und psychischen Erkrankungen. Das Umdenken in den Unternehmen schreitet unterdessen eher langsam voran.

Kirchheim. Die Hälfte aller Beschäftigten leidet häufig unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Jeder Sechste fühlt sich während der Arbeit sowohl körperlich als auch emotional erschöpft. Das sind Erkenntnisse, die der aktuelle „Stressreport“ der Bundesregierung zutage gebracht hat. Auch in Kirchheim und Umgebung sind psychische Erkrankungen wie das Erschöpfungssyndrom Burn-out auf dem Vormarsch. Statistiken der AOK Neckar-Fils zufolge gehen fast zehn Prozent aller Krankheitstage von Versicherten in den Landkreisen Esslingen und Göppingen auf psychische und Verhaltensstörungen zurück. Dazu gehören auch Erschöpfungs- und Überlastungszustände. „Die Fallzahl ist hoch“, weiß Andreas Kellner, Leiter des Bereichs Gesundheitsförderung bei der AOK. Außerdem gebe es eine erhebliche Dunkelziffer.

So ganz greifbar ist das Phänomen Burn-out nämlich nach wie vor nicht. Der Grund: „Als Diagnose ist das Burn-out-Syndrom nicht anerkannt“, sagt Michael Köber, der den Bereich Behindertenhilfe und Psychiatrieplanung im Landkreis Esslingen leitet und früher selbst als Psychotherapeut tätig war. „Wenn es zur Krankschreibung kommt, lautet die Diagnose meist depressive Episode, Angststörung oder Belastungsstörung“, sagt er. Das mache es nicht immer leicht, psychische Erkrankungen voneinander zu unterscheiden. „Aus meiner Sicht ist die Abgrenzung zwischen Depression und Burn-out aber entscheidend“, so Köber. Während eine Depression kontextunabhängig sei, gehe es beim Burn-out explizit um Symptome, die durch Arbeitsüberlastung hervorgerufen werden.

Dass das Thema Burn-out immer mehr in den Mittelpunkt rückt, hat unterschiedliche Gründe, wie der Diplom-Psychologe Henry Markus aus Stuttgart betont. Er nennt die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ebenso als Ursache wie den Druck, konkurrenzfähig zu bleiben. „Mit immer weniger Arbeitenden muss immer mehr erreicht werden“, sagt der Psychologe, der auch für die AOK tätig ist. „Beim Einzelnen bleibt immer mehr Arbeit hängen.“ Die Zahlen steigen aber auch, so Henry Markus, weil sich immer mehr Menschen zum Burn-out bekennen und früher professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. „Burn-out hat sich zu einem Modewort entwickelt“, sagt er. Ähnliche Symptome habe es aber immer schon gegeben. „So wird bereits in der Bibel die völlige Erschöpfung des Propheten Elias geschildert, ebenso sind Goethes schwere Schaffenskrisen überliefert“, so Henry Markus.

Das deckt sich mit der Beobachtung von Michael Köber. „Das Wort Burn-out wird manchmal auch inflationär gebraucht“, hat er festgestellt. Fakt ist für ihn trotzdem, dass das „Ausgebranntsein“ stark mit dem Klima am Arbeitsplatz und der Unternehmenskultur zusammenhängt. „Es gibt große Unterschiede bei den Burn-out-Quoten in Firmen“, sagt er. Entscheidend sei beispielsweise, wie früh ein Mitarbeiter Hilfe bekomme.

Oliver Schwarz, Coach und ehrenamtlicher Krisenbegleiter des Arbeitskreises Leben (AKL) findet eine Sache bedenklich: „Die Tendenz, die sich in der Gesellschaft ausbreitet, über das Thema zu lächeln“, sagt er. Egal, welchen Namen man dem Phänomen gebe – ob Depression, Burn-out oder Ausgebranntsein: „Man darf das Thema nicht auf die leichte Schulter nehmen“, betont er. Im Endstadium des Verlaufs von der Frustration über die Aggression bis hin zur Depression könne es bis zu suizidalen Gedanken oder gar zum Suizid kommen. Ganz wichtig ist aus seiner

Betriebe nutzen 
Möglichkeiten 
noch zu wenig

Sicht, dass Betroffene, die sich erschöpft fühlen, möglichst schnell ärztliche Hilfe aufsuchen.

Bedauerlich findet Psychologe Henry Markus, dass die Anti-Stress-Verordnung, die Regierung, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände in diesem Jahr gemeinsam hätten verabschieden sollen, an der Arbeitgeberseite gescheitert ist. „Es wurde die Chance vertan, zu den Themen Stress und Burn-out die politischen Rahmenbedingungen zu schaffen.“

„In den Unternehmen ist ein Umdenken im Gange“, sagt Paul Küfer, psychologischer Berater und Mentaltrainer mit Praxis in Kirchheim. Allein im vergangenen Jahr hat er 86 Vorträge über Stressmanagement gehalten. Dennoch liege immer noch vieles im Argen, insbesondere was die Umsetzung seiner Tipps und das tatsächliche Handeln angehe. „In Österreich und in der Schweiz ist man da schon viel weiter“, weiß er. Noch viel mehr müssten Unternehmen seiner Ansicht nach auf betriebliches Gesundheitsmanagement setzen. „Dazu gehört, sich qualifizierte Fachleute und Berater zur Hilfe zu holen“, sagt Küfer. Aber auch Angebote zur Entspannung und zur Förderung der psychischen Gesundheit seien noch rar gesät. „Jedes Unternehmen kann jedes Jahr für jeden Mitarbeiter 500 Euro steuerfrei in betriebliche Gesundheitsförderung stecken“, rechnet er vor. Doch viel zu wenige nutzten diese Möglichkeiten aus.

Dass das Bewusstsein in Unternehmen für das Wohlergehen der Mitarbeiter steigt, steht für Andreas Kellner von der AOK fest. „Betriebliches Gesundheitsmanagement boomt“, sagt er. Allerdings nicht überall in gleichem Maße. „Es gibt Firmen, die schon bis zu 19 Kurse pro Woche anbieten“, weiß er. Andere dagegen bieten keinen einzigen an.

Gezielt werde auch das Thema Burn-out angegangen. Bereits ausgebucht sind die nächsten beiden Seminare zum Thema „Work-Life-Balance“, das die AOK zusammen mit der IHK Region Stuttgart, der Vinzenz Klinik Bad Ditzenbach und dem Landkreis Göppingen speziell für Führungskräfte anbietet. Noch relativ jung ist auch das Kooperationsprojekt der AOK mit dem Klinikum Christophsbad in Göppingen. Firmen und Schulen können für Mitarbeiter, Führungskräfte und Lehrkräfte Vorträge und Seminare buchen, die es erleichtern sollen, das Burn-out-Syndrom zu erkennen und Vorsorge zu treffen.