Kirchheim. „Kalinka, kalinka, kalinka moja“, erklingt es aus der Konrad-Widerholt-Halle. Immer freitags trifft sich der russlanddeutsche Chor Melodia im Vereinsraum, um gemeinsam zu proben. Kalinka, eines der bekanntesten russischen Lieder, darf natürlich nicht fehlen, aber der Chor singt auch deutsche und russlanddeutsche Lieder. Russische Romanzen, also musikalische Interpretationen von Gedichten, begleitet am Klavier, gehören ebenfalls zum Repertoire. Sie handeln von Liebe, Leidenschaft und Tod – selbst wer kein Wort russisch versteht, begreift das beim Zuhören sofort.
Tatjana Bekker hat den Chor vor fünf Jahren gegründet. Sie stammt aus Kirgisien, arbeitete dort als Musiklehrerin für Kinder. Als sie mit ihrer Familie nach Deutschland aussiedelte, rutschte sie wie viele andere russische Frauen in die Isolation. Deshalb beschloss sie, einen kleinen Chor zu gründen. „Ich wollte die russischen Frauen aus dem Haus rausholen“, erzählt sie. „Wir kochen, putzen und arbeiten den ganzen Tag, aber wir machen nichts für unsere Seele.“
Der Anfang war ein wenig mühsam. „Bei der ersten Probe war ich noch alleine. Unser erster Auftritt war zu fünft im damaligen Übergangswohnheim“, erinnert sich Tatjana Bekker lachend. Als musikalische Begleitung kamen Ritta Naymark, Pianistin aus Aserbaidschan, und Nina Schechtel aus Sibirien mit der Bajan, einem Knopfakkordeon, dazu. Mittlerweile zählt der Chor 15 Sängerinnen und Sänger – wobei Letztere deutlich in der Unterzahl sind. Der Chor gibt ein großes Konzert im Jahr, kleinere Auftritte kommen hinzu.
Während anfangs fast nur Spätaussiedlerinnen mitsangen, ist der Chor mittlerweile durchmischt. Sechs Deutsche, die mehr oder weniger gut Russisch können, sind bei den wöchentlichen Proben mit dabei. Gemeinsam haben sie die Faszination für die russische Kultur. „Ich hatte schon immer Freude an russischem Liedgut. Wir singen hier, als ob wir echte Russen wären“, sagt Karl-Otto Seibold und lacht. Karl-Heinz Schach, der blind ist und die Texte deshalb in Brailleschrift in den Händen hält, hat einst Slawistik studiert. „Ich hatte schon immer eine große Affinität zu russischer Literatur und viel Freude am Singen“, erzählt er. Renate Hirsch nennt einen weiteren Grund, warum sie sich bei Melodia so wohlfühlt. „Die Freude am Singen ist im russischsprachigen Raum besonders groß“, sagt sie. Singen gehöre zum Leben dazu, es gebe eine viel größere Unbefangenheit.
Aber auch Neugier ist ein Grund, warum die deutschen Teilnehmer zum russlanddeutschen Chor gestoßen sind. „Ich finde es spannend, in eine andere Kultur einzutauchen“, sagt Irina von Cube. Über die Chorproben hinaus hat sie private Freundschaften geschlossen, und so geht es vielen hier. Russisch-deutsche Sprachbarrieren wurden schnell aus der Welt geschafft: Renate Hirsch, die beider Sprachen mächtig ist, transkribiert die kyrillischen Texte ins Deutsche. Neue Sänger, die kein Russisch können, sind also jederzeit willkommen. Sprachlich profitiert hat übrigens auch Chorleiterin Tatjana Bekker. „Bevor es den Chor gab, habe ich nie deutsch gesprochen. Ich habe mich geschämt“, erinnert sie sich. „Plötzlich musste ich deutsch sprechen. Das ist auch Integration.“