Die Badische Landesbühne Bruchsal (BLB) schickte gleich ein ganzes Kohlhaas-Quartett ins Rennen um die Publikumsgunst
„So nimm, Gerechtigkeit, denn deinen Lauf . . .“

Kirchheim. Wer Heinrich Kleists abi­turrelevanten „Michael Kohlhaas“ auf den Spielplan setzt, darf damit rechnen, dass sich der Altersschnitt des Publikums etwas nach


unten bewegt. Anstehende Reifeprüfungen“ können schließlich ungeahntes Interesse an sonst von vielen Jugendlichen eher ignorierten Freizeitbeschäftigungen wecken, wie es ein Theaterabonnement des Kulturrings nun einmal ist.

Wer sich für den Besuch des jüngsten Gastspiels des Ensembles der Badischen Landesbühne Bruchsal entschieden hatte, erlebte eine so eindrucksvolle wie eigenwillige ­Inszenierung, die einfallsreich mit den Möglichkeiten des Theaters spielte, sim kaum mehr kontrollierbaren Wunsch nach konsequenter Modernisierung den Klassiker neu erfand und so mutig verfremdete und effizient reduzierte, dass viele entscheidende (Abi-)Fragen sich gar nicht mehr stellten, weil teilweise auch unverzichtbar scheinende Themenblöcke kurzerhand über Bord geworfen wurden.

Die mutige Bühnenadaption von Wolf E. Rahlfs und dem für die gut bespielbare Bühne verantwortlichen Tommi Brem zeichnete aufwühlende Bilder, versteckte aber auch viel Originalmaterial hinter teils gesuchten, oft aber auch sehr eindrucksvollen Effekten und gut einstudierten Choreografien. Sie eröffnete zugleich im Konzertbühnenambiente Platz für Paolo Grecos Musik und weckte insgesamt eher Assoziationen an David-Bowie-Konzerte der frühen Jahre denn an werkgetreue Wiedergaben von Heinrich von Kleists Klassiker um einen Pferdehändler, der den schwer überwindbar scheinenden Wiederspruch in sich vereint, zwar „rechtschaffen“ aber zugleich auch „entsetzlich“ zu sein.

Einer banalen Grenzformalität und den daraus resultierenden unge­rechtfertigten Schikanen wegen wird er zum rasenden Wutbürger, der zunächst „nur“ das Schloss des Junkers Wenzel von Tronka brandschatzt. Mit den um ihn gescharten getreuen Mannen, legt er dann aber gleich ganze Dörfer in Schutt und Asche und bringt damit Seinesgleichen ohne jede Skrupel, „der gerechten Sache wegen“, wenn nicht ums Leben so doch zumindest um alles Hab und Gut.

„Wie Gewalt entsteht und wohin sie führen kann“, war in der laufenden Theatersaison schon einmal das entscheidende Thema gewesen und hatte die in der Stadthalle versammelten Besucher zurückgeführt in die Siebzigerjahre, mit den unsäglichen heimtückischen RAF-Anschlägen auf Staat und Gesellschaft und der daraus sich immer dramatischer verselbstständigen Terroristenhatz und -hysterie. Am Schicksal der fiktiven Katharina Blum hatte die rundum stimmige Inszenierung der WLB Esslingen aufgezeigt, was damals falsch lief im Staate Deutschland und was bis heute noch immer falsch läuft in der von Politikern jeder Couleur längst hoffähig gemachten Bild-Zeitung, der Bölls gallenbittere Kampfschrift über „Die verlorene Ehre der Katharina B.“ damals ja in durchaus übelwollender Verachtung explizit gewidmet war.

Die Inszenierung von Wolf E.  Rahlfs‘ „Michael Kohlhaas“ entschied sich beim Thema entstehende Gewalt für einen diametral entgegengesetzten Weg. Der historisch verbürgte Michael Kohlhaas war hier nicht – wie sonst üblich – die dominante Figur, die an ihrem kompromisslosen Unbedingtheitsanspruch an die Gerechtigkeit tragisch scheitert und den konsequenten Kampf durch alle Instanzen letztendlich – und in erneutem, nicht zu überbietendem Widerspruch – zwar mit dem Leben bezahlen muss, aber gleichzeitig doch auch gewinnt.

Michael Kohlhaas war hier tatsächlich jedermann – auf der Bühne und im Publikum. Sein individuelles Schicksal wurde zur Folie eines mit modernsten Mitteln entwickelten verunsichernden Gesellschaftsbildes, das aber keine erkennbaren Konturen mehr hatte. Schon die vier weiß geschminkten, weiß gegelten und weiß gekleideten Ensemblemitglieder Juliane Schwabe, Philip Badi Blom, Andreas Krüger und Ole Xylander waren bei aller schauspielerischen Profilierungskraft in ihren jeweiligen Rollen nicht leicht zu unterscheiden. Dazu schlüpften sie alle im unkonventionellen Wechsel immer wieder in die Rolle des vermittelnden Erzählers oder in die „Hauptrolle“ des bis zum bitteren Tod für die Gerechtigkeit kämpfenden Kohlhaas. Dass sie daneben noch ein Dutzend anderer Figuren verkörperten, machte es dem interessierten Publikum nicht leicht, sich immer gut zurechtzufinden und etwa den Kurfürsten von Brandenburg klar sofort vom sächsischen Kurfürsten unterscheiden zu können. Wer erwartete, dass an diesem Theaterabend in nur 75  Minuten entscheidendes Abi-Wissen in Form von leicht goutierbaren Fast-Food-Häppchen ausgeschüttet wird, das bei der anstehenden Prüfung dann nur noch abgerufen werden braucht, wird wohl eher enttäuscht nach Hause gegangen sein und sich vielleicht doch noch etwas intensiver mit Heinrich von Kleists Originaltext und den vielfältig angebotenen Lektürehilfen in der Sekundärliteratur beschäftigen müssen.

Wer aber seinen Michael Kohlhaas aus vorangegangener Lektüre schon parat hatte und daher von dem überbordenden BLB-Bühnenspektakel nicht verwirrt, sondern von vielen irrwitzigen Einfällen zuweilen sogar eher amüsiert wurde, konnte in der Stadthalle ein spannendes Experiment miterleben. Der sehr unkonventionelle Umgang mit Heinrich von Kleists geistigem Gut zeigte überzeugend auf, dass Theater gerade dann großen Spaß bereiten kann, wenn es auch einmal ausgetretene Wege verlässt und Mut zu einer eigenen Handschrift und dem damit unvermeidlich einhergehenden großen Risiko zeigt.

Die vier bei aller äußerlichen Gleichmacherei extrem vielseitig daherkommenden Darsteller, denen in ihren Mehrfachrollen ungemein viel abverlangt wurde, erhielten am Ende viel verdienten Applaus. Die künftigen Abiturienten haben jetzt zwar wohl noch mehr unbeantwortete Fragen, aber auch ein interessantes Diskussionsthema parat. Die polarisierende Inszenierung inspiriert sicher nicht zuletzt auch dazu, sich der Frage zu stellen: Wie weit darf eine moderne Inszenierung in ein verbürgtes Stück eingreifen, ohne zugleich im Titel auch deutlich zu machen, dass es sich nicht um ein Original handelt, sondern um eine sehr interessante Adaption, die aber eindeutig jemand anderes „erfunden“ und daher auch zu verantworten hat als – in diesem Fall – der Autor Heinrich von Kleist.