Richard Umstadt
Neidlingen. In Schwindel erregender Höhe bewegen sich Polier Dirk Jäger und der leitende Bauingenieur Johann Grau mit traumwandlerischer Sicherheit auf dem Gerüst rund 320 Meter über dem Neidlinger Tal. „Wenn Sie immer in dieser Höhe arbeiten, gewöhnen Sie sich irgendwann daran“, findet der Polier der Firma Wolfsholz nichts dabei. Das Leonberger Unternehmen hat sich auf die Sanierung historischer Bauten spezialisiert.
Diplom-Ingenieur Johann Grau aus Bietigheim-Bissingen ist zufrieden mit dem Wetter und zufrieden mit den Arbeiten. Seit 30 Jahren leitet er Sanierungen von Schlössern, Kirchen und Ruinen in ganz Baden-Württemberg. „Rund 180 bis 200 werden‘s schon gewesen sein“, überschlägt er kurz, darunter die Burg Katzenstein, der Hornberg, Schloss Haigerloch und das Chorherrenstift in Öhningen am Oberrhein. Wie der Spezialist für historische Bauten verrät, wird er noch in diesem Jahr die Arbeiten an der Burg Teck ausschreiben und beginnen, „sobald die denkmalschützerischen und naturschutzrechtlichen Genehmigungen vorliegen“.
„Der Reußenstein ist anders. Die Lage ist extrem und erfordert deshalb auch eine besondere Gerüststellung. Wir sanieren ein Biotop.“ Das heißt, bevor die Gerüstbauer anrücken konnten, war Dr. Jürgen Deuschle aus Köngen vor Ort, um festzustellen, „ob irgendwelche gefährdete Arten brüten oder sich in dem Gemäuer Fledermausquartiere befinden“. Beides war nicht der Fall. So konnte der Ökologe, der die ökologische Bauleitung innehat, grünes Licht geben.
Alle Felsen unter der Südwand und damit unter dem Gerüst sind aus Sicherheitsgründen gesperrt. Das Plateau östlich der Ruine ist jedoch wieder frei. An den Felsen unterhalb darf gekraxelt werden, und Wanderer können von der Bastion den herrlichen Blick übers Neidlinger Tal, zur Limburg und von Weilheim bis zum Schurwald am Horizont genießen.
Hinter der Stahltüre beginnt der Arbeitsbereich von Dirk Jäger und dessen Kollege Enrico Rolf. „Wir haben zuerst die Fugen mit Stemmhämmern ausgeräumt“, berichtet der Polier. Davon zeugt loses Fugenmaterial auf den Gerüstdielen. Anschließend wird die Wand „gewaschen“ und wieder verfugt. Dann bohren die Arbeiter die Wand bis zu einer Tiefe von zwei Drittel der Wandstärke an. „Injektionsbohrungen“ heißt das im Fachjargon. Damit erhält das Gemäuer die rettende Spritze. Die Injektion besteht aus einem speziellen flüssigen Verpressmörtel, der die Hohlräume der Kalksteinquader ausfüllt.
Im weiteren Verlauf der Arbeiten wird die Wand zunächst „vernadelt“ und erhält dann ein Korsett aus vier Spannankern. „Die garantieren, dass die Risse nicht weiter auseinanderklaffen“, erklärt Dirk Jäger.
Nadeln, bohren, verankern – das klingt martialisch, doch der Polier versichert: „Von alledem sieht der Laie nachher nichts mehr“, und meint schmunzelnd: „Die Leute fragen uns dann immer, was habt ihr eigentlich gearbeitet?“
Das wird auch der Landkreis Esslingen als Burgherr fragen, denn die Erhaltung des rund 750 Jahre alten Gemäuers kostet ihn rund 450 000 Euro. Freilich kann er mit kräftigen Zuschüssen in Höhe von knapp 300 000 Euro rechnen. 125 000 Euro fließen aus dem Topf des Bundes für das Denkmalschutz-Sonderprogramm und 121 000 Euro steuert das Land aus seinem Haushaltsposten zur Erhaltung und zur Pflege von Kulturdenkmalen bei. 50 000 Euro schießt die Denkmalstiftung Baden-Württemberg zu.
1965/66 wurde die alte Anlage zum letzten Mal saniert. Damals mit viel Manpower und wenig Geld. Schon immer hatten die Menschen im Neidlinger Tal und auf der Alb, aber nicht nur sie, eine besondere Beziehung zu dem sagenumwobenen Gemäuer. Wurde es in früheren Zeiten gerne als „Steinbruch“ zweckentfremdet, so änderten sich die Zeiten. Der Reußenstein 1270 als Ministerialburg derer von der Teck erbaut, ist nach seiner wechselvollen Geschichte Wahrzeichen und Teil der Heimat über dem Kirschental.
„So ‘ne schöne Baustelle hab‘ ich schon lange nicht mehr gehabt“, schwärmt Polier Dirk Jäger, der Mann aus Sachsen-Anhalt. Er muss es wissen, kennt er doch auch andere Gebäude, zum Beispiel den Hohenneuffen, den Speyrer Dom, das Schloss Sanssoucie, die Stuttgarter Stiftskirche und das Esslinger Amtsgericht. Ebenso begeistert ihn die Freundlichkeit der Menschen hier. „Das Wasser haben wir ohne Probleme vom Reußensteiner Hof erhalten“.