Kirchheim. Es wuselt und hüpft, jeder der Zuschauer sucht sich noch schnell ein Plätzchen. Doch dann ist es plötzlich mucksmäuschenstill. Auf dem Boden der Aula der Konrad-Widerholt-Förderschule in Kirchheim räkeln sich Katzen und Hunde – klar erkennbar an Masken, Felljacken und Shirts im Tigerlook. Aufgemischt wird die verschlafene Truppe von einem frechen Äffchen und prompt gibt es Streit. Recht schnell meldet sich aber die Stimme der Vernunft: „Hört auf zu streiten“, sagt eines der Tiere und wird gehört. Doch was stattdessen mit der Zeit anfangen? Eine Geschichte erzählen, die voller Abenteuer steckt, lautet der konsensfähige Vorschlag.
So beginnt das Theaterstück, das 35 Schülerinnen und Schüler der Konrad-Widerholt-Förderschule in Kirchheim aufführen. Seit dem Ende der Faschingsferien arbeitet die Schule an diesem Projekt, das komplett Marke Eigenproduktion ist. Susanne Schöllkopf, Lehrerin an der Förderschule, hat ihren Schülern aus dem Buch „Die Abenteuer des starken Wanja“ vorgelesen. In der Geschichte von Otfried Preußler steht der russische Bauernjunge Wanja im Mittelpunkt, der zunächst nur eines ist: faul. Während seine zwei Brüder mit dem Vater auf dem Hof schuften, hält Wanja lieber bei den Bienen ein Nickerchen. „Was kann er denn dafür, dass er so faul ist“, nimmt ihn Tante Akulina in Schutz. Als sich Wanja in den Birkenwald aufmacht, um ausnahmsweise etwas zu arbeiten und Reisig für die Tante zu holen, begegnet ihm ein alter, blinder Mann. Dieser gibt ihm die Aufgabe, so lange stumm auf dem Ofen liegen zu bleiben und sich von Sonnenblumenkernen zu ernähren, bis er stark genug ist, das Zarenreich zu führen. Als er dies nach Jahren erreicht hat, muss der starke Wanja zahlreiche Abenteuer überstehen, bevor er die Zarentochter heiraten kann und dann zum Zar gekrönt wird.
Die Geschichte über den faulen und starken Wanja fanden die Schüler so toll, dass sie Susanne Schöllkopf spontan baten, daraus ein Theaterstück zu machen. Dank Spenden und der Unterstützung durch den Förderverein konnte die Schule die Tübinger Schauspielpädagogin Daniela Burkhardt engagieren. Die brachte den Förderschülern einiges bei. Zunächst hieß das, sich um den Text zu kümmern. Manche Passagen des Buches fielen dem Rotstift zum Opfer, andere konnten übernommen oder ein bisschen umgeschrieben werden. Wann haben die frechen Mädchen ihren Auftritt und wo müssen sie stehen? Welche Schrittfolge habe die kessen Bienen bei ihrer kleinen Hip-Hop-Einlage? All das erarbeiten sich die Schüler mit ihren Lehrern und der Schauspielerin. „Sie zu motivieren war manchmal ganz schön Arbeit“, erzählt Susanne Schöllkopf.
Mit dem Ergebnis kann sie mehr als zufrieden sein. Vom kleinen Bienchen bis zum starken Wanja sind die Jungschauspieler auf der Bühne präsent – mal mit mehr Selbstsicherheit, mal ein bisschen zurückhaltend. Gestik und Mimik stimmen mit der Rolle überein und vor allem Wanja sieht man die Spielfreude an, die nicht nur in einer kräftigen Stimme zum Ausdruck kommt. Einen starken Auftritt haben auch die Hexen um Baba Jaga. Die kommen auf ihren Besen dahergeritten und mischen das Geschehen auf der Bühne und im Publikum ordentlich auf. Zum Theaterspielen gehört jedoch Auswendiglernen. „Gedichte oder Sätze auswendig zu lernen, wird nicht mehr kultiviert“, bedauert Susanne Schöllkopf. Um so mehr weiß sie die Leistung ihrer Schauspieltruppe zu würdigen. Der Schüler, der die Rolle des blinden Mannes übernommen hat, kommt problemlos durch seine langen Monologe und auch die anderen finden schnell wieder weiter, wenn das richtige Stichwort von der Souffleuse in den Raum geworfen wird.
„Theater ist pädagogisch sehr wertvoll. Geduld – überhaupt: Warten können – und Einfühlungsvermögen sind nötig. Es ist Teamschulung und Sprachförderung mit literarischen Texten im besten Sinne“, zählt Susanne Schöllkopf die Vorteile dieser Lernform auf. So können die Schüler spielerisch Kompetenzen einüben und fächerübergreifend miteinander arbeiten. Der langanhalte Applaus hebt das Selbstwertgefühl der Förderschüler, die sonst eher am Rand der Gesellschaft stehen. „Es ist schon etwas Besonderes, wenn sie sich trauen, vor Gleichaltrigen aufzutreten“, lobt die Lehrerin ihre Schützlinge. Zur Premiere waren Freunde und Verwandte geladen. „Nicht von allen Kindern waren die Eltern da – aber das müssen sie aushalten“, zeigt Susanne Schöllkopf ein weiteres Handicap ihrer Schüler auf, denn nicht alle können auf engagierte Eltern zählen. Es folgen zwei weitere Aufführungen: Zuschauer sind Schüler der Wendlinger Förderschule, der Konrad-Widerholt-Grundschule und die Schüler der Konrad-Widerholt-Förderschule. Die sitzen gespannt und erwartungsvoll bis ins Treppenhaus und fiebern mit den Schauspielern und der Geschichte mit.
Ihren Applaus genießen die Akteure sichtlich. Manche haben vor Aufregung gerötete Gesichter, andere strahlen einfach mit den anderen um die Wette. Doch der Alltag hat die jungen Akteure schnell wieder im Griff: „Haben wir jetzt noch Reli?“, fragen einige Schüler. Die Antwort ist ernüchternd: ja.