Lokales
Spitzer und der Kampf ums Hirn

Kirchheim. „Nichts ist schwerer und nichts verlangt mehr Charakter, als in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu stehen und laut zu sagen „Nein“. Was Kurt Tucholsky einst formulierte, erprobt Professor Dr. Dr. Manfred Spitzer derzeit im mutigen Selbstversuch. Wohl wissend,
 dass einsame Kämpfer leicht zu tragischen Figuren werden können, buhlt er in seinem Buch „Digitale Demenz“ um Unterstützung und Verständnis für seine Sorge darüber, „wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“.

„Unterirdischer“ Kritik auch aus den Reihen der „Qualitätspresse“ ausgesetzt, bleibt Professor Spitzer aber weiter hart in der Sache. Dass sich das Rad der Entwicklung nicht zurückdrehen lässt und die Bedeutung von Medienkompetenz nicht völlig negiert werden kann, ist auch ihm bewusst. Wogegen er sich entschieden wehrt, ist, dass mit dem Hirn das wertvollste Organ – dem er sich selbst ja mit Haut und Haaren verschrieben hat – immer mehr brach liegt und verkümmert.

„Wir klicken uns das Hirn weg“, warnt der Wissenschaftler und zeigt, was geschieht, wenn auf der Großbaustelle Hirn nur noch Dienst nach Vorschrift gemacht wird – und oft auch nicht einmal mehr das.

Die etwa von Navigationssystemen erwartete Unterstützung menschlicher Hirnwindungen habe längst dafür gesorgt, dass der Assistent das Kommando übernommen hat. Statt die eigene Route zu planen, wird blind der Technik vertraut. Eine mental Kontrolle findet daher nicht statt, niemand weiß, wohin die Reise geht und alle staunen, wenn sie plötzlich in einer Sackgasse endet.

Nach einem Crash-Kurs in Sachen Synapsen und Transmitter führt Manfred Spitzer seine Zuhörer in das Zentrum menschlichen Wissens und lässt sie in Schädel schauen, die leer, krank und hohl sind, dank dauernder Nutzung aber noch erstaunlich gut funktionieren.

Dann folgt das Hohelied auf Londons Taxi-Fahrer, die für ihre Lizenz immerhin 25 000 Straßen und Tausende von Plätzen lernen müssen. Der Hippocampus in ihrem Gehirn, der Punkt also, an dem Ortskenntnisse und Erinnerungen aufbewahrt werden, wächst dank dieser Herausforderung an und damit genau die Stelle, an der die Alzheimer-Krankheit ihr zerstörerisches Werk beginnt. Wie die trainierten Muskeln einem Sportler, hilft den Taxi-Fahrern ihr durch intensive Nutzung herausragend gut funktionierender Hippocampus im eigenen Hirn.

Lebenslanges Lernen ist wichtig für die Gesamtkonstitution des Menschen, der in den ersten Kindheitsjahren die größten Erfolge erzielt, wenn er lernt, seine biologisch vorgegebene mentale „Muskelkraft“ optimal zu nutzen. Überzeugt davon, dass moderne Medien im Kindergarten und im Grundschulalter mehr Schaden anrichten als Nutzen, weil sie Kindern das Denken abnehmen, statt es konsequent zu trainieren, dokumentiert Manfred Spitzer in polarisierender Rhetorik und stellt fest, dass das technische Wundermittel PC nun einmal zum Lernen und zur Aneig­nung eines verknüpften und vernetzten Wissens eher ungeeignet ist. Dafür braucht man noch immer die Schule.

Wenn Bildungspolitiker dann wider – bei Hirnforschern nachweislich vorhandenes – besseres Wissen „den hohen Lernnutzen der digitalen Medien“ preisen und „die Enquetekommission des Bundestages empfiehlt, alle Schüler mit Note­books auszustatten und die Computerspiel-Pädagogik zu fördern“, wittert Spitzer darin neben „blankem Unwissen“ zugleich auch „skrupellose kommerzielle Interessen“.

Wie Navigationssysteme die mitdenkende und Synapsen trainierende Fährtensuche unterbinden, birgt auch der bequeme Antrieb eines jeden Autos oder Motorrads die Gefahr in sich, dass dank bequemer Technik körperliche Leistungsfähigkeit durch entsprechenden Muskeleinsatz nicht gefragt ist. Theater-, Musik- und vor allem auch Sportangebote sind dem streitbaren Hirnforscher aus Ulm daher lieber als der flächendeckend erhobene Wunsch, Kindergärten unbedingt mit Laptops auszustatten. Für Manfred Spitzer sind diese unverzichtbar gewordenen Hilfsmittel in dieser frühen und sehr ent­schei­denden Entwicklungsphase nicht „Wunderwaffen“, sondern tatsächlich „nur gefährliche Lernverhinderungsmaschinen“.

Wer lediglich Inhalte auf einer Bildschirmoberfläche verschiebt, komme mit ihnen da nicht tief genug in Berührung, argumentiert Manfred Spitzer. Manuelles Anfassen allein ist genau deshalb noch kein mentales „Begreifen“, weil es keine nachhaltigen Spuren im prinzipiell ja sehr lernfähigen Gehirn hinterlässt, sondern schnell wieder vergessen wird. Spitzer ist überzeugt, dass gerade in dieser enorm wichtigen Phase eben nicht beliebige Oberflächen spielerisch bequem verschoben werden, sondern Inhalte durch entsprechende Aktivitäten – wie etwa Aufschreiben – tief wahrgenommen und damit gelernt und gespeichert werden müssen.

In einer sensationell schnell ausverkauften Kirchheimer Stadthalle konnte der anerkannte Hirnforscher und Bestsellerautor vor einem auf das Thema eingeschworenen Pub­likum einen geradezu entspannten Abend erleben, den der von „oft nicht fundierter Kritik“ verärgerte Wissenschaftler sichtlich genoss. Wehleidiges Opfertum scheint seine Sache ohnehin nicht zu sein, denn trotz vieler Anfeindungen ist sich Manfred Spitzer seiner privilegierten Position durchaus bewusst. Als wohlbestallter Professor braucht er um seinen Arbeitsplatz auch dann nicht zu fürchten, wenn er verkaufsschädigend heftig gegen moderne Laptops in Kindergärten wettert und sich gleichzeitig vom neben dem Mikrofon liegenden Smartphone davor schützen lässt, seine von ihm selbst vorgegebene freie Redezeit zu überschreiten.

Der von Sibylle Mockler, Geschäftsführerin der veranstaltenden Buchhandlung Zimmermann, als einer der führenden Hirnforscher Deutschlands begrüßte Mediziner, Psychologe und Philosoph war nach seinen beiden Promotionen und seiner Habilitation im Fach Psychiatrie zunächst als Oberarzt an der Uniklinik in Heidelberg tätig. Nach Gastprofessuren in Harvard und Oregon leitet er seit 1997 den Lehrstuhl für Psychiatrie an der Universität Ulm und seit 1998 auch die dortige psychiatrische Uniklinik.

Der immer wieder zu hörende Vorwurf, unwissenschaftlich zu ar­beiten, wurmt ihn daher ganz besonders – und die Kritik an seinen wohlfeilen und erstaunlich „einfachen“ Lösungen noch mehr. Wer möglichst viel für ein auch im Alter noch gesundes – zumindest aber gut durchtrainiertes – Hirn tun will, solle seine Zeit nicht vor Fernseher und Computer und auch nicht mit Sudokus oder Kreuzworträtseln verbringen, sondern mit seinen Enkeln. Deren dauernde Herausforderungen halten das Epi-Zentrum des Erinnerns im Hippocampus in Schwung. Notfalls, so Manfred Spitzers gut gelaunte abschließende Empfehlung, könnten das Gehirn ständig herausfordernde und damit gut trainierende Enkel ja auch ausgeliehen werden .