Lokale Kultur

Das dreckige Geschäft mit dem glänzenden Gold

Filmautorin Mirjam Leuze aus Kirchheim feiert morgen Abend auf der Berlinale mit „Flowers of Freedom“ Weltpremiere

Das dreckige Geschäft mit dem glänzenden Gold
Das dreckige Geschäft mit dem glänzenden Gold

Kirchheim. Sie hat schon viel gesehen, große berufliche Herausforderungen gemeistert und an Orten gelebt, an denen sich viele andere Europäer wohl sehr schwer getan hätten, mit den Tücken des Alltags fertig zu werden. Mirjam Leuze

hat aus all ihren Begegnungen mit fremden Welten gelernt und viel zu erzählen. Dass kein Mensch zu wissen scheint, dass Goldbergbau „eines der wohl dreckigsten Geschäfte der Welt ist“, hat sie lange nicht zur Ruhe kommen lassen.

Sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen und Menschen ein Forum zu geben, war ihr schon immer wichtig. Dass es ihr eines Tages gelingen wird, ein politisches und ökologisches Thema aus Zentralasien in die Festival-Landschaft der Berlinale hineinzutragen, hätte wohl selbst die ehrgeizige und nie von ihrem Weg abzubringende Regisseurin nicht zu träumen gewagt. Jetzt steht sie vor ihrem bislang größten persönlichen Erfolg: Morgen feiert ihr Dokumentarfilm „Flowers of Freedom“ auf der „Berlinale“, den „64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin“, im Rahmen der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ Weltpremiere.

In einem wohlbehüteten Kirchheimer Lehrerin- und Kirchenmusikdirektoren-Elternhaus aufgewachsen, hatte Mirjam Leuze schon immer ein Gespür für Ungerechtigkeiten auf der Welt und eine unendliche Neugierde auf fremde Länder und die dort unter teilweise unvorstellbaren Bedingungen lebenden und arbeitenden Menschen. In ihrem Film „Flowers of Freedom“ – dessen Aufnahme in den Olymp des Berlinale-Himmels allein schon eine echte Sensation ist – erzählt sie eine wie ein böses Märchen anmutende Geschichte, die durch ihre albtraumhafte Realität wachrütteln und zum Nachdenken aufrufen soll.

Statt in weichgezeichneten Hollywood-Impressionen zu schwelgen, bildet Mirjam Leuze die sie kirgisische Wirklichkeit vorwiegend mit bewegter Kamera ab und schafft damit eine unter die Haut gehende Authentizität, die nicht zum Träumen verführen kann – und auch nicht soll. Mit filmsprachlichen Mitteln will sie Bewusstsein dafür wecken, dass es auf der Welt schwerwiegendere Probleme zu beklagen gibt, als etwa im Musterland Baden-Württemberg oder in der Vorzeigestadt Kirchheim.

Erzählt wird in „Flowers of Freedom“ die Geschichte einiger mutiger Frauen, deren Leben in einem kirgisischen Dorf sich um die nächste Ernte, vergiftetes Wasser, um Schafe und Sitzblockaden dreht. Wenn sie sich zum Tee treffen, sehen sie riesige Lastwagen durch ihr Heimatdorf donnern, die neben Treibstoff und Dynamit auch unglaubliche Mengen an Zyanid geladen haben. Die hochgiftige Chemikalie wird in der nahegelegenen Goldmine eingesetzt.

Als 1998 einer der bis zum Rand mit Gift beladenen Trucks in den Fluss des Dorfes stürzt und zwei Tonnen Zyanid alles vergiften, erkranken Hunderte von Menschen. Offiziell werden nur zwei Todesfälle bestätigt. Wie viele Menschen an den Langzeitfolgen sterben, ist unklar. Wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt es nicht. Auch die Felder sind vergiftet und das Vieh erkrankt. Die Ernte eines ganzen Jahres ist mit giftigen Rückständen belastet.

Die Entschädigung in Millionenhöhe, die die Goldmine dem kirgisischen Staat überwiesen haben soll, kommt bei der Bevölkerung nur in minimalen Dosen an, der Rest verschwindet in dunklen Kanälen.

Da weder das Goldminenunternehmen noch die kirgisische Regierung etwas für die Opfer tun, gründet Erkingül Imankodjoeva mit ein paar Mitstreiterinnen eine kleine, aber in ihrer Hoffnungslosigkeit zu allem entschlossene Umweltorganisation. Die mutigen Dorfbewohnerinnen blockieren die Zufahrt zur Mine und schaffen es durch ihren Mut und ihre unbezwingbare Beharrlichkeit tatsächlich, 3,7 Millionen US-Dollar Entschädigung von der kirgisisch-kanadischen Goldmine zu erstreiten.

Als wäre das nicht schon unglaublich genug, geht die wahre Geschichte des anrührenden, aufrüttelnden und Hoffnung weckenden Dokumentarfilms noch weiter: Als im Frühjahr 2010 eine Revolution die Regierung stürzt, sind die kämpferischen Frauen erneut an vorderster Front dabei. „Vorstreiterin“ Erkingül Imankodjoeva schafft den Sprung in die Politik und kann sich von nun an – mit starkem Rückhalt und entsprechender institutioneller Macht ausgestattet – noch entschlossener auf ihren zähen Kampf für bessere Umweltkontrollen der Goldmine und gerechtere Verträge konzentrieren, während ihre ehemaligen Unterstützerinnen im Dorf bleiben, künftig aber immerhin etwas beruhigter am Rand der Durchfahrtsstraße ihren Tee schlürfen können.

Dieses keinesfalls „bezaubernde Märchen“ für Erwachsene gewährt tiefe Einblicke in einen weiblichen Mikrokosmos inmitten eines post-sowjetischen und zunehmend islamisch geprägten kirgisischen Dorfes. Es zeigt das Ringen um Gerechtigkeit, um Leben und Überleben und hat wahrlich nichts mit der Oberflächlichkeit kommerziellen Hochglanzkinos mit der Lizenz zum Kassenschlager zu tun, sondern mit der Tiefe eines ambitioniert und fast gegen alles bessere Wissen selbst losgetretenen Projekts, das irgendwann eine für die bis zur Besessenheit engagierte Filmautorin selbst eigentlich nicht mehr aufhaltbare Eigendynamik entwickelte.

Mirjam Leuze, die seit sechzehn Jahren regelmäßig im ehemaligen „sowjetischen Orient“ in der Republik Kirgistan unterwegs ist, sammelte in der Türkei erste Auslandserfahrungen. Die Ergotherapeutin absolvierte dort nach mehrjähriger Arbeit mit Schwerstbehinderten einen viermonatigen Arbeits- und Studienaufenthalt und schrieb sich für einen achtwöchigen Intensivkurs Türkisch ein.

Mit 34 Jahren beschließt sie dann einen einschneidenden Wechsel in ihrem Leben. Sie will unbedingt die Turksprache im zwischen Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und China gelegenen Kirgistan erlernen und zugleich vor Ort ethno-medizinische Studien betreiben. Die ambitionierte Ethnologiestudentin, die an der Universität Köln und in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek auch Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft sowie Pädagogik studierte und eine Ausbildung zur Videojournalistin absolvierte, lernt zunächst in einem achtwöchigen Praktikum ihr Wunschland kennen. Sie kehrt dann mit einem zehnmonatigen Stipendium des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes (DAAD) 1998 nach Kirgistan zurück – in dem Jahr also, in dem sich das schwere Zyanid-Unglück ereignete.

Eine Nachrichtensperre der kirgisischen Regierung sorgte dafür, dass über das Giftunglück praktisch nichts zu hören war. Mirjam Leuze, die bei Recherchen für einen Film über den Goldbergbau in der größten Goldmine Lateinamerikas im nordperuanischen Cajamarca erstmals gesehen hatte, wie ganze Berge mit giftigem Zyanid getränkt werden, um den Goldstaub aus der Erde herauszulösen, weiß, dass dabei Millionen Tonnen giftigen Abraums und kontaminierten Wassers übrig bleiben. Sie begreift jetzt auch, was in dem kirgisischen Dorf geschieht und gezielt vertuscht wird. Sie nimmt Kontakt zu ihrer Freundin Dinara auf, die aus dem Nachbardorf stammt, und lernt so die Frau kennen, die rund um die Goldmine als eine Art weiblicher Robin Hood bekannt ist.

2007 und 2008 beginnt Mirjam Leuze zunächst völlig auf sich selbst gestellt mit knochenharten Recherche-Drehs. Als sich mit der Revolution im April 2010 die Ereignisse im Land und vor allem auch im Leben ihrer im Film porträtierten Protagonistinnen überstürzen, beginnt sie intensiv zu drehen und dem aufregenden Strom der Ereignisse zu folgen. Mirjam Leuze kann sich auf Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch und Russisch verständigen. Ihre am besten stechende fremdsprachliche Trumpfkarte sind aber zweifellos ihre Kirgisisch-Kenntnisse.

Diese und ihre unkonventionelle Arbeitsweise ohne die Unterstützung eines mitreisenden Teams ermöglichen ihr eine sehr persönliche Annäherung an die von ihr bewunderten Heldinnen des harten kirgisischen Alltags, die auch selbst filmen und so zu ihren Kolleginnen werden. Die Kamera wechselt dabei immer wieder die Seiten und macht Mirjam Leuzes Film damit zu einer eindrucksvollen Hommage einer intensiven Zusammenarbeit von Fremden, die längst Freunde geworden sind. Die Filmautorin untermauert dabei ihre These, dass „dokumentarisches Filmen erst im echten Dialog mit den Menschen vor der Kamera entstehen kann“.

Ihre Teilnahme am 64. Internationalen Film-Festival in Berlin bedeutet Mirjam Leuze vor allem auch deshalb sehr viel, weil „Zentralasien und Kirgistan in den Medien immer wieder auf einen Ort an der Seidenstraße mit Jurten, Pferden und traditionell lebenden Menschen reduziert wird“. Filme, die die Menschen und das Land „in den Kontext einer sowjetischen Vergangenheit und einer globalisierten Gegenwart stellen“, gehören für sie aber „zur medialen Grundversorgung“.

Mirjam Leuze freut sich darum auch ganz besonders, das große Forum des Festivals dafür nutzen zu können, um den vielen internationalen Besuchern mit Kirgistan ein Land näherzubringen, das nach der Revolution im April 2010 zur ersten parlamentarischen Demokratie in Zentralasien wurde. „Bis heute ist es das einzige Land, das umgeben von repressiven politischen Systemen in den Nachbarländern China, Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan einen demokratischen Aufbruch versucht.“