Coronavirus

Das Vertrauen in die Regierung ist gering

Coronakrise Die gebürtige Kirchheimerin Nina Gerstenberger schildert ihre Eindrücke aus Großbritannien, wo sie seit 17 Jahren lebt und arbeitet. Von Peter Eidemüller

Leergekaufte Supermarktregale sind in Großbritannien keine Seltenheit mehr – auch in Stalybridge bei Manchester, wo die Kirchhei
Leergekaufte Supermarktregale sind in Großbritannien keine Seltenheit mehr – auch in Stalybridge bei Manchester, wo die Kirchheimerin Nina Gerstenberger lebt. Foto: pr

Mittendrin, statt nur dabei: Nina Gerstenberger lebt seit 17 Jahren in Großbritannien, aktuell wohnt die 38-jährige Kirchheimerin in Stalybridge vor den Toren von Manchester. Die gelernte Filmemacherin und Drehbuchautorin macht sich angesichts der Coronakrise Sorgen, wie in ihrer Wahlheimat mit dem Thema umgegangen wird. „Leider habe ich kaum Vertrauen in die Regierung von Boris Johnson, diese Krise angemessen zu meistern“, sagt sie.

Hintergrund ist neben des ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren unzureichend finanzierten Gesundheitssystems auch der Brexit: „Dadurch fehlt Personal bei den Ärzten und in der Pflege“, weiß sie, „bereits vor Corona war das Gesundheitssystem in der Krise, und die Zustände in vielen Krankenhäusern beängs­tigend.“

Befeuert wird das Misstrauen in die Verantwortlichen durch deren Schlingerkurs in den vergangenen Tagen. „Wie in so vielem hechelt die britische Regierung auch in dieser Krise den anderen europäischen Nationen hinterher.“ Am Donnerstag hatte es von offizieller Seite noch geheißen, dass die Menschen in Großbritannien eine sogenannte „Herden-Immunität“ aufbauen sollten und man demzufolge als Konsequenz bis zu 500 000 Todesfälle in Kauf nehmen müsse. „Maßnahmen zum so genannten Social Distancing, die in fast allen Ländern nun empfohlen werden, wurden hier noch nicht für nötig befunden“, erinnert sich Gerstenberger. Doch nach massiver Kritik von Experten und der Bevölkerung kam am vergangenen Freitag ein Umdenken: Alle Fußballspiele der Premier League am Wochenende wurden abgesagt, weitere Massenveranstaltungen sollen nun offiziell untersagt werden. Außerdem wird das Arbeiten von zu Hause gezielt empfohlen.

Letzteres stellt für die Exil-Kirchheimerin kein Problem dar: Nina Gerstenberger arbeitet als Produzentin im Bereich Social Media für die BBC - die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt der Briten ist laut Gerstenberger „bestens“ auf Homeoffice vorbereitet. „Mein Team wird ohne Probleme auch über einen längeren Zeitraum hinweg von zu Hause aus arbeiten können“, sagt sie, „bereits am Freitag hatten wir alle in einem Probelauf schon mal von daheim aus gearbeitet, und das hat super geklappt.“

Wer diese Möglichkeit nicht hat, nimmt sein Schicksal selbst in die Hand: „Viele Menschen ergreifen nun Eigeninitiative, wo die Regierung versagt“, beobachtet Nina Gerstenberger, „Eltern arbeiten von sich aus von zu Hause und schicken ihre Kinder nicht zur Schule.“

Folgen für den Brexit

Schule hin, Homeoffice her: Nina Gerstenberger vermutet, dass die Krise auch auf den Brexit massive Auswirkungen haben wird. „Ich denke, der von Johnson indirekt angestrebte ‚No Deal‘ zum 31. Dezember wird nicht mehr möglich sein. Wenn bis dahin keine Handelsabkommen mit der EU zustande kommen, muss die Übergangsfrist verlängert werden.“

Nicht nur diese Aussicht drückt den Menschen im Land aufs Gemüt „Die Stimmung ist irgendwie komisch“, hat Nina Gerstenberger erkannt, „die ungezwungene Lebensfreude der Menschen spüre ich so nicht mehr.“

Mut macht ihr in dem Zusammenhang, dass sich der schwarze britische Humor offenbar in die virtuelle Welt verlagert hat. „Viele posten in den sozialen Medien lus­tige oder ironische Memes - das hilft.“

Rund 80 Prozent könnten sich infizieren

Großbritannien zählt Stand Montagmorgen 1 395 Infizierte. Schulschließungen sind noch kein Thema. Nur wer Symptome wie Husten und Fieber entwickelt, soll sich für sieben Tage isolieren. Laut Tageszeitung „Guardian“ erlebt das Land die „schlimmste Krise des staatlichen Gesundheitswesens seit einer Generation“. Schätzungen zufolge könnten sich rund 80 Prozent der Bevölkerung in den kommenden zwölf Monaten infizieren - das wären über 53 Millionen Menschen. tb