Das Grüppchen war überschaubar, das sich nach einem recht spontanen Aufruf von der Partei „Die Linke“ am Dienstagabend am Kirchheimer Marktbrunnen versammelt hat. Am Vormittag hatte Hüseyin Sahin, Bundestagskandidat der Linken, zu der Demonstration aufgerufen. Sie stand unter dem Titel „Stand with Afghanistan – Kundgebung für die sofortige Evakuierung gefährdeter Personen“.
„Das ist eine spontane Aktion. Wir wollen damit auf die aktuelle Situation in Afghanistan aufmerksam machen. Die schrecklichen Bilder vom Flughafen haben uns alle geschockt“, sagte Hüseyin Sahin. Unzählige Menschen waren auf das Rollfeld des Flughafens in Kabul gekommen und haben sich an Flugzeuge geklammert. „Wie groß muss die Verzweiflung der Menschen sein, dass sie lieber einen todesbringenden Sturz vom fliegenden Flugzeug in Kauf nehmen, anstatt den Taliban ausgeliefert zu sein“, erklärte der Jungpolitiker.
Die Regierung lasse die Menschen im Stich, die im Sinne der Demokratie das Land mit aufbauen halfen. Nur zwei Tage hätten die Taliban gebraucht, um das zu zerstören und zurückzuerobern, was in 20 Jahren mühsam aufgebaut worden war. „Frauen verschwinden aus der Öffentlichkeit, Bilder von ihnen in der Öffentlichkeit werden übermalt, es herrscht Musikverbot. Die Welt schaut zu und überlässt die Menschen ihrem Schicksal. Diese Situation ist unerträglich“, so Hüseyin Sahin. Er prangerte das Versagen der politischen Führung an und forderte eine Luftbrücke für diejenigen, die Hilfe benötigen – insbesondere für die Angestellten des Auswärtigen Amts, die nun Schlimmstes befürchten müssen. „Diese Menschen müssen wir hierher holen und so ihr Leben retten.“
„Ich kann doch nicht nichts machen“, sagte die parteilose Joanna Weichelt, die zusammen mit Hüseyin Sahin die Aktion spontan ins Leben gerufen hat. Sie wollte lieber einen kleinen Schritt tun, damit sich in der Politik etwas ändert, auch wenn sie sich bewusst ist, dass dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Die deutsche Regierung habe keine Menschlichkeit gezeigt, ebenso wenig die in den USA, Großbritannien und Pakistan. „Frauenrechtlerinnen müssen vor dem sicheren Tod bewahrt werden. Deutschland und die EU müssen jetzt handeln, um die Menschen in Afghanistan zu retten“, forderte sie. Der weiße Imperialismus und Kolonialismus habe endgültig ausgedient.
Die Polizei war mit zwei Autos und vier Beamten vor Ort. Es war ein entspannter Einsatz für sämtliche Beteiligte. Die Lautsprecherbox, die Stadtrat Heinrich Brinker im Fahrrad-Anhänger mitbrachte, war schnell aufgebaut und ebenso wieder eingepackt. So friedlich, wie die Teilnehmer gekommen waren, gingen sie auch wieder nach dem einen oder anderen Plausch auseinander.
Massive Fehleinschätzung: „In keiner Weise vorbereitet“
Kreis. Die Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis Nürtingen – zu dem auch das Verbreitungsgebiet des Teckboten zählt – nehmen Stellung zur Lage in Kabul und zur Rolle, die die deutsche Außen- und Verteidigungspolitik dabei spielt. Dazu zählt auch das Problem, dass eines der Transportflugzeuge am Montag gerade einmal sieben statt mindestens 116 Personen außer Landes gebracht hat.
Für den Gesundheitspolitiker Michael Hennrich (CDU) sind die Vorgänge am Kabuler Flughafen vom Montag schleierhaft. „Man ist schon perplex, wie das gerade läuft“, sagt er. Denn die Einnahme des Landes und der Hauptstadt durch die Taliban seien ja Vorgänge, die sich angekündigt hätten. Hier habe offensichtlich die Abstimmung zwischen Außen- und Verteidigungsministerium nicht funktioniert. Hennrichs Vermutung: Man wollte sich bei diesem Thema vor der Bundestagswahl wegducken. „Das hat nicht funktioniert“, so Hennrich. Die Analyse des Außenministeriums sei offenbar unzureichend gewesen. „Wir müssen zusehen, dass wir unser eigenes Personal, aber auch die afghanischen Helfer, die Kräfte aus den sicherheitsrelevanten Bereichen, so schnell wie möglich außer Landes bringen“, sagt Michael Hennrich. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und will auch Frauen, die sich in der Frauenrechtsbewegung engagiert haben, sowie Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen in diese Rettungsaktion mit einbeziehen.
Für Nils Schmid (SPD) sind die Bilder von verzweifelten Menschen und vom Chaos auf dem Flughafen in Kabul kaum zu ertragen. Er zeigt sich sehr erleichtert, dass im nächsten Flugzeug bereits über 120 Menschen an Bord waren und die Evakuierungsmission endlich richtig anlaufen konnte. Dass der Antrag der Grünen im Bundestag, ein Gruppenverfahren zur „großzügigen Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ einzuführen, im Juni gescheitert war, darauf kommt es Nils Schmid zufolge gar nicht an. „Ein entscheidendes Problem war, dass die CDU/CSU in Person von Horst Seehofer bis letzten Freitag eine unbürokratische Einreise von Ortskräften verhinderte. Viel zu spät hat das Innenministerium die Voraussetzungen für die Durchführung von Charterflügen und die nachträgliche Visaerteilung in Deutschland geschaffen“, kritisiert der SPD-Abgeordnete.
Fassungslos ob der Bilder vom Kabuler Flughafen ist auch Matthias Gastel (Grüne). „Noch vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung die bestenfalls naive Auffassung vertreten, die Bundeswehr verlasse Afghanistan gemeinsam mit ihren Nato-Partnern in geordneten Verhältnissen. Man war auf das, was leider schon länger absehbar war, in keiner Weise vorbereitet“, sagt er – und bescheinigt der Regierung eine massive Fehleinschätzung der Lage. Viele Schutzbedürftige, die für eine Demokratisierung des Landes eintraten, seien nun schutzlos den Taliban ausgesetzt. Darunter seien auch deutsche Staatsangehörige. „Unserer Information nach befindet sich kaum mehr als jeder Fünfte der Botschaftsangehörigen und Ortskräfte in Sicherheit“, sagt Gastel. Es seien zu wenige Transportflugzeuge geschickt worden, und private Unternehmen wie DHL, die helfen wollten, seien abgewiesen worden. Die Grünen hätten die Kontakt- und Aufenthaltsdaten vieler Dutzend besonders schutzbedürftiger Personen direkt an das Auswärtige Amt weitergeleitet – mit der dringenden Bitte, sie auf die Liste der prioritär zu Evakuierenden zu setzen.
„Die Bilder, die uns gestern vom Flughafen von Kabul erreicht haben, sind herzzerreißend“, sagt Renata Alt (FDP). Die Nachricht, dass die ersten Menschen an Bord der deutschen Luftwaffenmaschine aus Afghanistan ausgeflogen werden konnten, gebe hingegen Hoffnung. Die Bilder zeigten, wie gefährlich und schwierig die Evakuierung durch das zögerliche Handeln der Bundesregierung gemacht wurde. Dabei habe sich schon früh abgezeichnet, dass die afghanischen Ortskräfte auf Hilfe angewiesen sein würden. „Jetzt ist aber Zeit für flexible und pragmatische Lösungen“, sagt Renata Alt. Sie erwartet von der Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung zu den Vorgängen, in der auch das weitere Vorgehen aufgezeigt werde. Sylvia Gierlichs