Lokale Kultur

Der kindliche Blick auf Berlin

Hanns-Josef Ortheil liest in der Buchhandlung Zimmermann aus „Die Berlinreise“

Kirchheim. Das ist unglaublich: Ein zwölfjähriger Junge schreibt einen detailreichen, reflektierten, humorvollen Bericht über eine Berlinreise.

Sollte er in seinem Alter schon zu einer solchen schriftstellerischen Leistung fähig sein, die ihn in die Spiegel-Bestsellerliste katapultiert?

Jetzt aber der Reihe nach. Als ersten Autoren des Programms „Kulturkalender“ hat die Buchhandlung Zimmermann Hanns-Josef Ortheil eingeladen und damit einen dicken Fisch geangelt. Er ist ein viel gefragter, mit Preisen überhäufter Gegenwartsautor und Hochschullehrer. Dass die Veranstaltung ausverkauft war, kam nicht überraschend. Überrascht hat das, was Ortheil über den Text seines Romans „Die Berlinreise“, den „Roman eines Nachgeborenen“, zu sagen hatte, der dieses Jahr erschienen ist. Er ist ein Stück Ortheilscher Familiengeschichte. Seine Eltern waren 1939 aus einem kleinen Dorf im Westerwald aus beruflichen Gründen nach Berlin gezogen. Was als Aufbruch in eine große Welt begrüßt wurde, erwies sich durch den Krieg als „katastrophalste Zeit der Ehe“ seiner Eltern. „Berlin war mit allen Wassern des deutschen Schreckens gesegnet.“ Privat brachte das für die Familie Ortheil die Verwundung des Vaters und den Verlust von zwei Söhnen im Säuglingsalter mit schlimmen Folgen. Die Mutter musste nach dem Krieg noch zwei Fehlgeburten überstehen und verlor vor lauter Kummer die Sprache.

So wuchs der junge Hanns-Josef, 1951 in Köln geboren, wohin die Familie übersiedelte, mit einer stummen Mutter auf. Er sprach bis zum siebten Lebensjahr kein Wort, mit allen negativen Wirkungen.

Das Stummsein hatte nicht nur defizitäre Folgen, sondern bewirkte erstaunlicherweise eine intensive Sprachschulung und schärfte das Beobachtungsvermögen. Von klein auf war der Bub an schriftliche Notizen auf Notizzetteln gewöhnt. Es waren Notizen über all das, „was ihm besonders auffiel oder durch den Kopf ging“. Die schriftlichen Äußerungen wurden durch den Vater und die Mutter „korrigiert und betreut“. Diese Beschäftigung entstand aus dem Bedürfnis, die gefundene Sprache festzuhalten, damit sie nicht wieder verloren geht.

Solche Notizen brachte der Junge auch von einer neuntägigen Berlinreise zurück, die er mit seinem Vater 1964 unternommen hat, „Hunderte“ von einseitig beschriebenen, mit Datum versehenen Seiten aus Rechnungsblöcken. Diese verband der Junge mit einem Erzähltext und schenkte das Ganze den Eltern zu Weihnachten.

In dieser Form ruhte der Text 50 Jahre im Familienarchiv. An die Oberfläche gehoben wurde die Zettelsammlung durch einen Lektor, der anregte, den Bericht von einer Moselreise, die ein Jahr vor der Berlinreise stattfand, zu veröffentlichen. Das Werk wurde 2010 ein Erfolg, obwohl es sich, so versicherte Ortheil, um den unveränderten „Urtext“ handelt, mit allen kindlichen „Fehlern“, die nur einige „Oberstudienräte“ gestört hätten – ein Ortheil hat die Bedienung dieses Klischees eigentlich nicht nötig. Nach dem Erfolg des Reiseberichts zur Mosel nun also die Veröffentlichung des Berichts der Berlinreise. Zwei Werke aus dem Notizenfundus des Knaben Ortheil sollen noch folgen.

Die Berlinreise war eine Reise auf den Spuren der Eltern. Dadurch wird der Bericht vielschichtig. Der Junge erlebt das Berlin von 1964 als Insel mit der Mauer und den ganzen Folgen der Teilung. Von seinem Vater erfährt er viel vom Berlin vor der Teilung, von einem pulsierenden Zentrum, das jetzt im Osten liegt und tot wirkt. Schließlich gibt es für den Leser als Bezugspunkt das heute wiedervereinigte Berlin.

Kinder und Narren sagen die Wahrheit, so heißt es. Es ist das Besondere dieses Berichts, dass das Kind Wahrheiten über die Berliner Eigenheiten ausspricht, zum Beispiel das Elitebewusstsein als Insulaner, die Red- und Bierseligkeit, doch auch die Herzlichkeit. Bei der Reise erfährt der Junge viel über seine Eltern, die damaligen Lebensumstände und die daraus folgenden Empfindlichkeiten. Die Eltern sind nie wieder nach Berlin gereist. Schriftliche Quellen sind die Haushaltsbücher und Notate der Mutter, die sich in einem zurückgelassenen Koffer befinden und von dem Jungen gelesen werden.

Der Reisebericht setzt sich aus einer abwechslungsreichen Mischung aus Originalnotizen, Kartengrüßen an die Mutter und der verbindenden Erzählung zusammen. Der Autor, nun ein Senior, wählte Textausschnitte, die die verschiedenen Zeitebenen mit ihren Themen abdecken.

Von Sprachlosigkeit kann bei Ortheil heute wahrhaftig keine Rede sein. Er kann gestaltend lesen, arbeitet Pointen heraus und kam beim wachen Kirchheimer Publikum glänzend an. Wer nicht da war, kann auf ein Hörbuch zurückgreifen, das nächste Woche erscheint.

Nach der Lesung bildete sich eine lange Schlange zum Signieren. Hat sich nun das ungläubige Staunen über die unglaubliche Leistung eines Zwölfjährigen verflüchtigt? Macht sich ein Zwölfjähriger Gedanken über „Dialektik“ und durchschaut er schon sprachgewandt Erwachsene? Ortheil hat versichert, dass dem so sei. Es gibt halt außergewöhnliche Biografien und Begabungen.