Der Mensch braucht alle Sinne, um Gefahren richtig einordnen zu können. Was sich nicht sehen, riechen oder fühlen lässt, wird häufig ignoriert. Es sind wenige, die das ganze Ausmaß an Not und Leid in der Corona-Pandemie täglich vor Augen haben. Während die Politik gestern über weitere Lockdown-Verschärfungen verhandelte, ging in den Kliniken der Kampf um Menschenleben weiter. Auch in Kirchheim.
Bärbel Lipp ist seit 33 Jahren Pflegekraft im Kirchheimer Krankenhaus. Was sie seit Beginn der Pandemie bei ihrer täglichen Arbeit auf der Isolierstation erlebt, ist nicht immer leicht zu verkraften. Der Umgang mit dem Tod ist hier Alltag und doch ist vieles anders im Moment. Arbeitsschichten von bis zu zwölf Stunden in voller Schutzmontur zehren an den Kräften. Das stetige Auf und Ab beim Zustand der Patienten ist psychisch belastend. „Gerade scheint einer über den Berg zu sein,“ sagt sie. „Im nächsten Moment verlieren wir ihn.“ Da kommt unweigerlich die Frage auf: Was habe ich falsch gemacht? Vieles von dem nimmt man mit nach Hause. Auch die Gefahr, bei der Arbeit selbst zu erkranken. Bärbel Lipp hat es getroffen. Die Krankheit hat sie ohne Langzeitfolgen überstanden. Mit dem Rest muss sie leben. Was hilft, sind Gespräche, das gute Miteinander im Kollegenkreis oder wenn es gelingt, dass Angehörige in Würde Abschied nehmen können. Bei ihr, sagt sie, ist es ihr Glaube, der über dunkle Stunden hinweghilft.
Es ist eine eigene Welt, die, wie es scheint, nichts mit dem zu tun hat, was sich draußen abspielt. Klagen der Wirtschaft, Spekulationen darüber, wann der Alltag zurückkehren wird, und immer wieder diejenigen, die das alles leugnen, verharmlosen, relativieren. „Die Boshaftigkeit dieses Virus lässt sich nicht wegdiskutieren“, sagt Johannes Gommel bestimmt. Er leitet in Kirchheim die Intensivstation und würde sich wünschen, dass das Verständnis der Menschen für den Ernst der Lage zurückkehrt.
So wie er haben viele seiner Kolleginnen und Kollegen den Eindruck, in Vergessenheit zu geraten. Im Frühjahr, während der ersten Welle, wurden sie als Helden gefeiert und mit Präsenten überhäuft. Die Diskussion um bessere Bezahlung ging damit einher. Dann folgte der Streit um den Pflegebonus, durch den sich viele weniger Geld als vielmehr Anerkennung für ihren Einsatz erhofft hatten. Jetzt ist es ein stiller Kampf geworden, abgeschottet von der Außenwelt und kaum mehr beachtet von der Öffentlichkeit.
Dabei ist vieles in Sicht, nur das Ende nicht. „Wir sind noch lange nicht durch,“ sagt Dr. Jörg Sagasser, medizinischer Direktor der Medius-Kliniken. Zu Beginn der Woche kamen allein in Kirchheim sechs neue Covid-Patienten hinzu. Zwölf Intensivbetten gibt es hier, acht davon verfügen über Beatmungsmöglichkeiten. Die Diskussion über die Zahl noch freier Plätze ist eine, bei der viel über Geräte und viel zu wenig über die Menschen geredet wird, die sie bedienen, sagt der Mediziner.
Zudem gleicht sie einer täglichen Gratwanderung. Viele Erkrankte liegen wochenlang auf der Intensivstation, weil sich Erholungsphasen und Rückschläge ständig abwechseln. „Bevor wir unsere Notfallreserven aufgeben, fliegen wir Patienten aus“, betont Sagasser. „Wir wollen hier keine italienischen Verhältnisse.“ Damit es dazu nicht kommt, sind die Kliniken im Südwesten zu sogenannten Clustern zusammengeschlossen. Auf diesem Weg gelangen Patienten aus dem Kreis notfalls nach Stuttgart, Ludwigsburg oder bis nach Heidelberg. Dorthin, wo freie Plätze zur Verfügung stehen. Ein System, das bisher funktioniert, und das wird es wohl auch noch eine Weile müssen. „Sollten irgendwann zwei Drittel der Bevölkerung geimpft sein“, sagt Sagasser, „dann könnten wir die Lage möglicherweise in ein bis zwei Jahren stabilisieren.“ Für den Mediziner heißt das: Dann wird das Virus zur Routine. Ein ständiger Begleiter wird es bleiben.
Doch von Routine im Umgang mit der Pandemie ist man nicht nur hierzulande weit entfernt. Dass Impfstoff fehlt, erfahren nicht nur Hochbetagte, die in Pflegeheimen oder in einem der beiden Kreisimpfzentren auf die erste Injektion warten. Auch Klinikkräfte, die direkten Kontakt mit Infizierten haben, gehen leer aus. Die Diskussion über eine Impfpflicht für Pflegekräfte ist für Johannes Gommel und seine Mitarbeiter auf der Kirchheimer Intensivstation deshalb eine Geisterdiskussion, die obendrein zur Unzeit kommt. „Die Bereitschaft wäre da, aber wir haben keinen Impfstoff, und wir werden auch in der kommenden Woche keinen bekommen“, sagt er. Von mehreren Hundert Mitarbeitern, die zur höchsten Gefährdungsstufe zählen, ist in den drei Medius-Kliniken nur eine Handvoll geimpft. Auf eigene Initiative hin und in einem der zentralen Impfzentren in Stuttgart und in Offenburg.
Egal, was an weiteren Verschärfungen im Lockdown seitens der Politik noch kommen sollte, Klinik-Direktor Jörg Sagasser genügen für sein Urteil drei knappe Halbsätze: „Zu spät. Zu sanft. Zu langsam.“ Johannes Gommel pflichtet seinem Chef bei: „Wie viele dadurch dauerhaft zu Schaden gekommen sind, wissen wir glücklicherweise nicht.“