Kirchheim
Die Lotsin im Bücherlabyrinth

Lesen Die Leiterin der Kirchheimer Stadtbücherei, Ingrid Gaus, verabschiedet sich nach 34 Jahren in den Ruhestand. In dieser Zeit hat sie die Einrichtung zu einem festen Bestandteil der Stadt gemacht. Von Ulrich Staehle

Die ­Veranstaltungsreihe „Text  &  Töne“ der Stadtbücherei feierte 25-jähriges Bestehen. Am Ende des Programms verbeugten sich die Künstler unter dem Applaus des Publikums. Ingrid Gaus trat kurz vor, dankte, übergab ein Geschenk und zog sich wieder zurück.

Das war ihr Stil: Auch beim Jubiläum dieser äußerst beliebten Veranstaltungsreihe in den Ferien für die Daheimgebliebenen blieb sie weitgehend im Hintergrund. Sie ließ Taten sprechen: Sie hatte dieses kulturelle Highlight der Stadt erfunden und weiterentwickelt. Sie hatte 25 Jahre lang Programme entworfen, Künstler ausgewählt und verpflichtet, die Bücherei für die Präsenta­tion eingerichtet - wirkungsvolle Hintergrundarbeit, nicht Selbstdarstellung, das war ihr Arbeitsprinzip.

War? Ja, Ingrid Gaus hat sich in den Ruhestand ­verabschiedet. 34 Jahre hat sie die Stadtbücherei in Kirchheim geleitet. Da kann sie nicht verhindern, dass sie einmal im Vordergrund steht, dass sie angemessen gewürdigt wird. Um dies leisten zu können, fand ein Gespräch in ihrem Büro statt.

Ihre Kindheit verlebte sie in Schramberg. Nach dem Abitur machte sie in Freiburg eine solide Lehre als Buchhändlerin und studierte anschließend in Stuttgart an der „Fachhochschule für Biblio­thekswesen“, heute „Hochschule der Medien“. Ab 1981 war sie an der Stadtbücherei Heidenheim tätig. Im Februar 1986 übernahm sie die Leitung der Stadtbücherei Kirchheim. „Ich hätte niemals zugesagt, wenn es keine Neubaupläne gegeben hätte. Das Max-Eyth-Haus war viel zu eng für eine Bib­liothek.“ Dazu sagt sie: „Die Zeit des Umzugs brachte die höchsten Anforderungen meines Berufslebens überhaupt - mit der Einführung der EDV und den neuen Abläufen.“

Was reizt überhaupt am Beruf einer Bibliothekarin? Bei dieser Frage wird die sonst so zurückhaltende Ingrid Gaus überraschend leidenschaftlich: „Ich lese gerne.“ Doch das allein genügt als Begründung nicht, das tun Menschen mit anderen Berufen auch. Eine gute Allgemeinbildung ist Voraussetzung für das Zurechtfinden im Lektüreangebot. Eine Bibliothekarin „muss wach sein für aktuelle Theorien und Tendenzen“ und sich auf allen Medienkanälen kundig machen. Eine Bibliothekarin, erst recht in führender Position, mag Lieblingsgattungen und -autoren haben, darf diese aber nicht zum Maßstab machen. „Wir sind für die Nutzer da - und deren Lese- und Informationsbedürfnisse“, verdeutlicht sie. Das Wissen über Literatur und Sach­themen muss breit gefächert sein, auch auf Kosten der Tiefe, wenn es um kompetente Beratung und um Anschaffungen geht, bei denen Anregungen aus dem Leserkreis sehr willkommen sind.

Doch die Belletristik ist nur ein kleiner Ausschnitt des Alltags einer Bibliothekarin. Sachliteratur und Sachinformation in verschiedenen medialen Formen spielt eine große Rolle. Ein bisschen versteht sich Ingrid Gaus als „Lotse“ in der Informationsflut und dem Buchangebot.

Der größte Teil des Berufsalltags einer Büchereileiterin nehmen Organisations- und Verwaltungstätigkeiten ein, um eine Einrichtung wie die Stadtbücherei am Laufen zu halten.

Welchen Stellenwert hat die Bib­liothek als Institution der Stadt? Auch hier legt sich Ingrid Gaus mächtig ins Zeug: „Ich sehe die Bücherei als wichtigen Ort in der Stadt, an dem sich verschiedene Altersgruppen und soziale Schichten begegnen können wie kaum an einem anderen Ort. Und darin sehe ich eine wichtige Funktion für die Stadtgesellschaft. Diese Funktion, dieser Auftrag für die Bibliotheken steht für mich gleichwertig neben der Literatur- und Informationsversorgung.“

In diesem Sinne war Ingrid Gaus mit Engagement im Literaturbeirat der Stadt Kirchheim tätig. In diesem Sinne wurden „Text  &  Töne“ angeboten, und in diesem Sinne koordinierte die Stadtbücherei in Zusammenarbeit mit dem Kulturring seit 2002 die „Kinder- und ­Jugendtheatertage Kirchheim“, ein Angebot von und für Schulen und andere pädagogische Institutionen. Diese breit gestreuten Theateraktivitäten zeichnen die Stadt Kirchheim aus. Sie sind eine Form von Literaturvermittlung, fördern die Integration, sind kurzum pädagogisch nicht hoch genug einzuschätzen. Die Koordination hat mittlerweile der Kulturring übernommen.

Überhaupt setzt Ingrid Gaus gerade im Hinblick auf das Grundschulalter Hoffnung darauf, dass das allgemein prognostizierte Büchersterben aufzuhalten ist: Für diese Kinder gehört Buch und Lesen zusammen. Beides trägt zum Selbstbewusstsein bei. Leseförderung und eine frühe Berührung mit der Literatur sind wichtig. Später kann beim Lesen, gerade wenn es die Situation nahelegt, auch das Tablet zum Einsatz kommen. Sichtbares Zeichen für diesen Optimismus ist die völlig neu eingerichtete prachtvolle Kinder- und Jugendbuchabteilung.

Ingrid Gaus hat in den 34 Jahren dafür gesorgt, dass die Stadtbücherei die selbst auferlegten Anforderungen erfüllt hat. Für diese Lebensleistung hat sie jetzt selbst einen dankbaren Schlussapplaus verdient. Es fällt schwer, sich eine Stadtbücherei ohne Ingrid Gaus vorzustellen.