Kirchheim oder Esslingen haben mittlerweile ein Stadtticket, mit dem man günstig Bus fahren kann. Warum haben kleinere Gemeinden nicht die Möglichkeit, dort mitzumachen?
Horst Stammler: Jede Gemeinde kann für sich ein Stadtticket anbieten. Dieses Ticket ist aber grundsätzlich an das Stadtgebiet gebunden. Kirchheim ist zwangsweise eine Ausnahme, weil einige Linien in die Stadtteile bekanntermaßen durch die Gemeinde Dettingen führen. Jetzt wollen wir erstmal sehen wie das läuft, bevor wir an Ausdehnungen in andere Gemeinden denken.
In den Medien ist oft vom 365-Euro-Jahresticket die Rede. Was halten Sie von dieser radikalen Maßnahme?
Das ist eine ganz andere Hausnummer, da fehlt mir ehrlich gesagt die Fantasie, wie man das unter den heutigen Rahmenbedingungen finanzieren soll.
Sagen Sie doch mal, was die einzelnen Maßnahmen kosten würden.
Die Stadt Wien gilt ja immer als Vorzeigestadt in Sachen öffentlicher Nahverkehr. Dort zahlen Sie im Jahr 365 Euro für das Stadtgebiet Wien, und wenn Sie nach draußen fahren rund 180 Euro pro Zone. Wenn man das auf unseren Verkehrsverbund überträgt, wären das Mindereinnahmen von 118 Millionen pro Jahr. Wenn Sie für alle Zonen im VVS 365 Euro zahlen würden, wären das 146 Millionen Euro pro Jahr. Zum Vergleich: Die Tarifreform kostet uns 42 Millionen Euro im Jahr, und deren Umsetzung war schon ein Kraftakt.
Dann setzen wir gedanklich noch einen drauf: Was würde in der Region der Nulltarif kosten, wie er in Luxemburg praktiziert wird?
Beim Nulltarif würden ja alle Fahrgeldeinnahmen wegfallen. Dann reden wir von rund 550 Millionen Euro pro Jahr, die dauerhaft zu finanzieren wären.
Aber Kosten für das Aufstellen von Automaten, deren Wartung und sonstige Tarifinformationen würden ja wegfallen . . .
Sie sprechen die Vertriebskosten an, die man einsparen könnte. Diese entsprechen rund zehn Prozent der Fahrgeldeinnahmen. Sie müssen aber noch weitere Kosten mit einbeziehen. Da bei einem Nulltarif die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel sicher deutlich höher wäre, müssten in erheblichem Umfang mehr Züge und Busse eingesetzt werden. Diese müssten aber erst beschafft werden, außerdem müsste dazu die Infrastruktur deutlich ausgebaut werden. Daher ist der umgekehrte Weg besser: Erst Infrastruktur ausbauen und mehr Bahnen und Busse fahren lassen.
Kann nicht das Land bei der Finanzierung helfen?
Die kommunalen Gebietskörperschaften könnten es jedenfalls nicht allein finanzieren. Sie müssen allerdings bedenken, dass das Land nicht nur für die Region Stuttgart da ist. Das Land müsste dann auch die anderen Verkehrsverbünde entsprechend unterstützen. Übrigens: Die Stadt Stuttgart hat beschlossen, die Tickets für Schüler und Azubis aus Stuttgart so zu bezuschussen, dass unter dem Strich ein Eigenanteil von 365 Euro herauskommt. Dies ist ein interessanter Test, ob es mit dieser Maßnahme gelingt, mehr Kundschaft zu gewinnen.
Warum ist denn in Luxemburg ein Nahverkehr zum Nulltarif für alle möglich?
Das Land liegt zwischen Lothringen in Frankreich, Wallonien in Belgien und Deutschland und hat ein riesiges Verkehrsproblem. Die finanzieren sogar den Busbetrieb in ihren Nachbarländern, um die Autos von der Straße zu bekommen. Die Ticketpreise lagen vorher schon bei zwei Euro für das ganz Großherzogtum, damit setzten alle Verkehrsunternehmen in Luxemburg gerade mal 40 Millionen Euro im Jahr um. Das entsprach einer Kostendeckung von nur zehn Prozent. Insofern war der Schritt zum Nulltarif nicht mehr so groß.
Wenn die Reform für Kommune und Land zu teuer ist, müsste man dann nicht den Bund mit einbeziehen?
Sie sind auf der richtigen Spur. Solche Gedanken macht man sich sowohl in den Gremien des VVS als auch im Stuttgarter Gemeinderat: Aus eigener Kraft schaffen wir das nicht, es braucht neue, dauerhafte Finanzierungsquellen. Langfristig darf das kein Tabu mehr sein. Denken Sie etwa an London mit der City-Maut für alle Fahrzeuge, mit deren Einnahmen die Tickets für den ÖPNV subventioniert werden. Oder nehmen Sie die „Dienstgeber-Abgabe“ in Wien, die pauschal alle Unternehmen zahlen müssen. Diese wird umgangssprachlich auch als U-Bahn-Steuer bezeichnet.
Was tun Sie, abgesehen von der Tarifreform, ganz konkret, um das Angebot in der Region Stuttgart attraktiver zu machen?
Die Region hat vor einem Jahr 58 neue S-Bahn-Waggons bestellt, damit können wir ein Drittel mehr Fahrgäste transportieren. Auf der Linie S1 nach Kirchheim und anderen Linien wird es dann in der Hauptverkehrszeit nur noch dreigliedrige Langzüge geben. Aber man muss sich darüber klar sein, dass es ein langer Prozess ist, die Leute zum Umsteigen zu bewegen. Das geht nicht nur über den Preis. Wenn es so wäre, würden die Leute ja nicht so viele SUV kaufen, die sind bekanntlich recht teuer und verbrauchen viel.
Wie lauten Ihre Ziele als Verkehrsbetrieb für die nähere Zukunft?
Wir wollen den Autoverkehr in der Region Stuttgart um 20 Prozent reduzieren und diese Menge im ÖPNV unterbringen. Dafür muss aber auch die Infrastruktur erweitert werden, damit wir neue Angebote wie etwa die S-Bahn nach Nürtingen oder den Ringschluss von den Fildern ins Neckartal realisieren können. Es geht im Verkehr ja nicht nur um Emissionen, sondern auch um den Flächenverbrauch durch Straßen und Autos. Deswegen ist das Elektroauto allein auch nicht die Lösung aller Probleme, denn wenn Sie im E-Auto im Stau stehen, ist es auch nicht besser. Wir müssen die Mobilität grundsätzlich neu denken, mit Konzepten wie Carsharing oder Fast-Lanes für Fahrzeuge mit mehr als drei Insassen. Ein Beispiel: In einem Langzug der S-Bahn sitzen 1 200 Menschen. Wenn die alle Auto fahren würden, hätten sie einen Stau von sechs Kilometern Länge. Daher sollte jeder Autofahrer seinen Nachbarn ins Nachtgebet einschließen, wenn dieser die Bahn nutzt.