Kirchheim

Ein Beruf, der das Leben spiegelt

Heilerziehungspfleger Vincent Wölke ist Teamleiter im Wohnheim der Lebenshilfe in der Saarstraße. Er ist verantwortlich für acht Menschen mit geistiger Behinderung. Von Julia Nemetschek-Renz

Matthias Vinzenz (links) und Heilerziehungspfleger Vincent Wölke schaukeln im Wohnheimgarten in der Saarstraße in Kirchheim.Foto
Matthias Vinzenz (links) und Heilerziehungspfleger Vincent Wölke schaukeln im Wohnheimgarten in der Saarstraße in Kirchheim. Foto: Julia Nemetschek-Renz

Abendbrotzeit in der Wohngruppe im Dachgeschoss: Alle sitzen am großen Tisch in der Küche. „Bist du satt geworden, Matthias?“ Vincent Wölke geht in die Hocke. Schaut dem Bewohner Matthias Vinzenz erst in die Augen. Streicht sich dann langsam über den eigenen Bauch. Sagt lauter: „Satt?“ Jetzt hat ihn Matthias Vinzenz verstanden, er nickt und lächelt. Der 49-Jährige hört kaum etwas, und von den Lippen lesen geht nicht, wenn das Gegenüber eine Maske trägt. Auf der anderen Seite sitzt Stefan Schreib, er hat sich als Nachtisch einen Apfel geholt. „Ist der auch gewaschen?“, fragt Vincent Wölke und schneidet den Apfel in Schnitze. Dann schiebt er seinen Stuhl weit zurück, dreht sich weg, schiebt den Mundschutz runter, nimmt sein Wasserglas und trinkt.

Was in den Krankenhäusern die Ärzte und Krankenschwestern sind und in den Altenheimen die Altenpfleger, sind in allen Einrichtungen für Menschen mit Behinderung die Heilerziehungspfleger: Die Berufsgruppe, ohne die nichts geht in Pandemie-Zeiten. Drei Jahre dauert die Ausbildung, vorher muss noch ein einjähriges Praktikum gemacht werden. Bundesfreiwilligendienst und Freiwilliges Soziales Jahr werden anerkannt. Und so sieht auch der typische Werdegang aus: Erst Realschule, dann Bufdi und danach die Ausbildung. „Fast alle unsere „HEPs“ haben wir selbst ausgebildet“, erzählt Benjamin Langhammer, Leiter des Wohnbereichs der Lebenshilfe Kirchheim. „Heilerziehungspfleger sind sehr begehrt und auf dem Arbeitsmarkt kaum zu bekommen.“ Sie arbeiten in Wohngruppen für Menschen mit Behinderungen, Werkstätten, integrativen Kindergärten, Förderschulen und psychiatrischen Einrichtungen. Und Benjamin Langhammer beschreibt den Beruf als Schweizer Taschenmesser der Pflege - „HEPs“ könnten eigentlich alles: Pflegen, Kochen, Abrechnungen machen, psychologische Gespräche führen, Ausflüge planen, abends ausgehen mit den Bewohnern, Gruppen therapeutisch begleiten, Spielpartner sein.

22 Jahre ist Vincent Wölke alt, hat nach Bundesfreiwilligendienst und Ausbildung zum Heilerziehungspfleger bei der Lebenshilfe Kirchheim die Teamleitung im Dachgeschoss übernommen. Er trägt mit Kollegen die Verantwortung für acht Bewohner. „Hier hast du das komplette Leben. Weil du Menschen im Alltag begleitest“, sagt Vincent Wölke und setzt sich zur Bewohnerin Beate Stribel. Sie schaut hin und her. „Bist du grad ein bisschen aufgeregt?“, fragt er.

Während in ganz Deutschland die Zeichen auf Lockerung stehen und Ausstieg aus dem Lockdown, ist davon im Wohnheim keine Spur. Die Werkstätten bleiben geschlossen, Besuche sind weiterhin verboten. An Geburtstagen singen die Eltern unten im Hof, das Kind steht oben am Fenster. Und Vincent Wölke hat noch immer alle seine privaten Kontakte strikt eingeschränkt und beantwortet auf der Arbeit noch immer die gleiche Frage: „Wann dürfen wir wieder raus?“ Hauptproblem sei einfach, dass es im Moment viel zu viele Fragen und viel zu wenige Antworten gibt. Kochen und gemütlich essen, in den Garten gehen, schaukeln, vorlesen, Filme gucken: Das sind die Tagesordnungspunkte. Und hoffen, dass Corona fern bleibt.

Einen Verdachtsfall gab es vor einigen Wochen in der Wohn-gruppe. „Zum Glück war das Testergebnis dann negativ“, erzählt Wölke. „Aber bis wir es hatten, musste der Bewohner auf dem Zimmer bleiben, zwei Tage lang und sich komplett allein beschäftigen. Und wir durften da nur in Vollmontur mit Schutzanzug rein.“ Die strengen Vorgaben zur Quarantäne besagen auch, dass ein Mitarbeiter nur 20 Minuten am Stück im Zimmer sein darf. Vincent Wölke hat seine 20 Minuten immer nur zum Reden verwendet. Die Einsamkeit sei doch das Aller-schlimmste, sagt er.

Es wird dunkel. Stefan Schreib sitzt am Esstisch in der Wohnküche. Und die Apfelschnitze liegen noch immer vor ihm. Gleich beginnt das Abendprogramm. Vincent Wölke entschuldigt sich. Jetzt sei Duschen und Pflege dran. Und dann ist wieder ein Tag geschafft. Ein Tag ohne Corona.