Kirchheim. Es ist 21.40 Uhr, als die ersten Regentropfen vom Himmel fallen. Der Himmel ist dunkelgrau, die Regenwolken türmen sich, die
Sonne ist schon hinterm Horizont verschwunden. Einige Frauen packen hastig ihre Sachen und fliehen ins Innere des Mehrgenerationenhauses Linde. Die meisten bleiben draußen sitzen. Sie scheinen den Regen nicht einmal zu bemerken und schaufeln Löffel um Löffel ihre Suppe in sich hinein. Endlich.
Als vor fünf Minuten der Ruf des Muezzins durch die Lautsprecher im Fenster der Linde tönte, war die Erleichterung unter den Muslimas groß. Die meisten von ihnen sind den Fastenmonat Ramadan seit langer Zeit gewöhnt. Sobald sie 14 oder 15 waren, die Pubertät hinter sich hatten und zum Kreis der Erwachsenen zählten, haben sie genauso wenig gegessen und getrunken wie ihre Eltern. Heiße Tage wie dieser machen ihnen trotzdem immer wieder zu schaffen. Sowie das Gebet ertönt, gilt die erste Aufmerksamkeit den unzähligen Wasserflaschen, die sich auf den Tischen aneinanderreihen. Erst dann bildet sich langsam die Schlange am Essensbuffet.
Ein Hauch von echtem Ramadan-Flair umgibt den Garten der Linde: Ausgelassenheit, Freude, Erleichterung, Gemeinschaft. Was in muslimischen Ländern in diesem Monat auf der Tagesordnung steht, sobald die Sonne untergegangen ist, erleben deutsche Muslime selten. Viele der Frauen sind‘s gewohnt. Sie sind in Deutschland aufgewachsen und kennen den Ausnahmezustand der Fastenzeit nur vom Urlaub bei ihren Großeltern. In Deutschland geht der ganz normale Alltag weiter – Ramadan hin oder her.
Hülya Kambir ist so eine Frau. Ihre Eltern sind als Gastarbeiter aus der Türkei gekommen. In den 80er-Jahren, ihrer Schulzeit, hat sie 30 Tage im Jahr ein zweigeteiltes Leben geführt. Von der Anstrengung konnte sie sich in der Schule nichts anmerken lassen, ihre Mitschüler waren ahnungslos. Die Zeiten haben sich geändert. Ihre Tochter Sara ist schon in einer anderen deutschen Gesellschaft groß geworden. „In meiner Klasse drehen sich alle weg, wenn sie etwas essen“, sagt die Elfjährige. Sie versucht dieses Jahr schon ihren zweiten Ramadan. So gut es geht, meistens halbtags.
„Viele nehmen sich den ganzen Monat frei, wenn sie können“, sagt Hülya Kambir, während sich neben ihr eine Bekannte die erste Zigarette des Tages anzündet. Fasten ist nervenaufreibend – keine Frage. Doch Kambir genießt den Monat, versucht ihn mit allen Sinnen zu genießen. Es ist eine Zeit des Verzichts: Nicht nur auf Essen und Trinken, sondern zum Beispiel auch auf schlechte Angewohnheiten, Streit oder Sex. Es ist eine Zeit, in der sie Gott näherkommen will.
2012 hatte eine Gruppe türkischer Frauen rund um Hülya Kambir das erste gemeinsame „Iftar“, übersetzt einfach „Frühstück“, im Garten des Mehrgenerationenhaus Linde organisiert. Mithilfe der Leiterin des Hauses, Anja Hezinger, wächst die Anzahl der Frauen, die dort einmal im Jahr zum Essen zusammenkommen. Auch Kirchheimerinnen, die nicht dem Islam angehören, besuchen das Fest immer wieder. Dieses Jahr haben außerdem auch einige Flüchtlingsfrauen aus Unterkünften in der Umgebung den Weg in den Garten am Alleenring gefunden.
Dass im Ramadan besonders mit denjenigen geteilt wird, die sonst nicht mehr viel haben, ist Tradition. Das Teilen wird zur Pflicht im Fastenmonat, ebenso Spenden an Bedürftige. Hülya Kambir liegt sehr viel an solchen Traditionen aus der Heimat ihrer Eltern. Sie will ihre Kinder mitnehmen und diese Bräuche an sie weitergeben – auch, wenn sie selbst schon die zweite Generation in Deutschland ist.