Kirchheim

Farbige Klangwelten

Multimedia Beim fünften Orgelkino in Kirchheim in der Kirche Maria Königin überzeugte die Organistin Christiane Michel-Ostertun mit einer fast zweistündigen Stummfilm-Improvisation. Von Winfried Müller

Faust, in der genialen Filmversion des Stummfilmregisseurs Friedrich Murnau aus dem Jahr 1926, stand dieses Jahr auf dem Programm der Orgelkinoreihe. In bewährter Kooperation mit dem Verein KIZ (Kommunikationszentrum für interkulturelle Zusammenarbeit), der für die gesamte Technik verantwortlich zeichnete, eröffnete der Vorsitzende des Vereins, Akos Csernai-Weimer, die Veranstaltung und wies dabei auch auf die Verbindungen zwischen ihrer Arbeit und dem Film hin. „Wer beherrscht die Welt? Wem verkaufen wir unsere Seele heute?“ Bei den Antworten darauf kommt das KIZ ins Spiel, mit einem breiten Angebot zur Berufsvorbereitung, für Orientierungstage, Erlebnispädagogik und vieles mehr.

Mit Christiane Michel-Ostertun hatte Organisator, Dekanatskirchenmusiker Thomas Specker, eine herausragende Improvisatorin und Organistin für die sehr anspruchsvolle Aufgabe einer Live-Improvisation gewonnen. Christiane Michel-Ostertun ist Professorin für Liturgisches Orgelspiel und Improvisation, Komponistin, Autorin sowie Chorleiterin. Seit 2011 tritt sie verstärkt mit Stummfilmimprovisationen auf. Im Vorfeld dazu befragt, wie man sich auf eine fast zweistündige Improvisation vorbereiten kann, nannte sie die gründliche Filmkenntnis als eine selbstverständliche und zentrale Voraussetzung.

Einer Gesamtschau des Films folgt eine akribische Einzelszenenbetrachtung mit ersten Skizzen, bis dann ähnlich wie im Film ein „Drehbuch“ mit vielen Abschnitten entstanden ist. Darauf basierend entwickeln sich parallel dazu Melodien, Einfälle, musikalische Stimmungen, die notiert werden.

Ein detailliertes Wissen um die Möglichkeiten der jeweiligen Orgel ist ein zweiter wichtiger Punkt. Und schließlich eine Neugier auf den Film, damit die eigene Konzentration und Spielfreude über den langen Zeitraum und auch nach mehrmaligem Betrachten aufrechterhalten wird.

Christiane Michel-Ostertun gelang es von Beginn an, die zahlreichen Zuhörer und Zuschauer in den Bann zu ziehen. Organisch fließend entwickelte sich die Filmhandlung unter ihren Händen um den Gelehrten Faust, der von Mephisto in Versuchung geführt wird. In der Tradition der originalen Filmmusik unter Verwendung von Motiven Richard Wagners und Richard Strauss‘, stattete sie die Personen mit leitmotivischen Melodien und Farben aus und erhöhte so den „Wiedererkennungswert“.

Die Steinmeier-Orgel bot dafür eine fast unerschöpfliche Palette an charakteristischen Klängen und Einzelregistern. Die Szenenübergänge, die teilweise sehr rasch waren, konnten durch übergangslose Registerwechsel in den modernen Speicherkombinationen mitvollzogen werden. Trotz der Filmlänge von fast zwei Stunden kamen keine „Längen“ auf, weil große Spannungsbögen gestaltet wurden. Bei aller Detailverliebtheit geriet das „große Ganze“ nicht aus dem Blick. Das Film-Sujet mit gespenstischen, gelegentlich brutalen, aber immer wieder auch anrührenden, auch unbeschwerten, ja heiteren Episoden in einem kontinuierlichen Erzählduktus bildete eine ideale Vorlage für die improvisierten Klangwelten der Organistin.

Besonders eindringlich gerieten die Szenen, als sich die Pforten der Hölle öffneten, der Pestausbruch beschrieben wurde, die Zeit im Stundenglas verrann, ein Hochzeitsfest gefeiert wurde, Mephisto sich im Liebesfrühling befand oder - sehr zu Herzen gehend - als Gretchen und ihrem Kind der Erfrierungstod drohte. Dafür fand Christiane Michel-Ostertun die richtigen Farben und musikalischen Ausdrucksmitteln. Dabei stellte sie ihre stupenden technischen Fähigkeiten immer in den Dienst des Films. Skalen, Arpeggien, Akkorde, Cluster, Lamentobass, Liegetöne - die Fähigkeit, Stimmungen adäquat musikalisch darzustellen, war besonders beeindruckend.

Vor allem die Zitate waren von großer Wirkung: „Lobe den Herren“ als Unterstreichung des Gesehenen, der „Hochzeitsmarsch nach Wagner“ in grotesker Verfremdung oder „Es ist ein Ros entsprungen“ und „Guten Abend, gut Nacht“, als Gretchens Kind in der eisigen Kälte erfror, waren von erschütternder Aussagekraft. Die Liebe siegt bei dieser Filmversion - überzeugt und „gesiegt“ hat auf jeden Fall die Glanzleistung der Improvisatorin, die mit großem Applaus bedacht wurde.