Kirchheim
Für kleine Nadelstiche sensibilisieren

Ausgrenzung Diskussion um Diskriminierung zeigt, dass auch gut gemeinte Fragen als ablehnend verstanden werden können. Deshalb gilt es, das Thema Rassismus stärker ins Bewusstsein zu bringen. Von Andreas Volz

In einer vielfältigen Gesellschaft ist Rassismus eines der größten Probleme, sagt Kirchheims Integrationsbeauftragter Ali-Babak Rafipoor. Wie sich dieses Problem auf kommunaler Ebene lösen lässt, war Thema einer Online-Diskussion, die er gemeinsam mit Grünen-Stadtrat Jürgen Berghold moderierte.

Zur Diskussion wurde die Veranstaltung vor allem durch Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der zu etlichen Punkten eine andere Meinung vertrat als die anderen Teilnehmer. Er nannte als Grundlage aller Gespräche das „Principle of charity“, das er folgendermaßen umschrieb: „Man wählt die Deutung eines Satzes, die die freundlichste ist.“ Konkret bedeute das: „Wenn jemand fragt, wo kommst du her, dann ist das nach diesem Prinzip als Interesse am anderen zu verstehen - und nicht als Rassismus.“

Vorausgegangen waren die Schilderungen Betroffener, die gerade die Frage nach der Herkunft als ausgrenzend erleben. Sie verstehen dahinter die eigentliche Aussage: „Du stammst nicht von hier, du gehörst also nicht wirklich hierher.“ An dieser Stelle verdeutlichte Boris Palmer noch einmal seine Auffassung: „Wenn nicht das Argument zählt, sondern nur das Gefühl, verletzt zu sein, dann ist jedes Gespräch sofort zu Ende.“ Wem unterschwelliger Rassismus vorgeworfen wird, der könne sich dadurch ja auch verletzt fühlen.

Nicht nur gegen die Betroffenheitsperspektive als einzigen Maßstab sprach sich Boris Palmer aus, sondern auch gegen den grundsätzlichen Vorwurf eines strukturellen Rassismus: „Wenn ich das Wort ,Indianerhäuptling‘ ausspreche, heißt es, das sei struktureller Rassismus - und schon muss ich mich dafür entschuldigen, dass ich Kindheitserinnerungen habe.“ Dabei sei das Wort in keinster Weise diskriminierend: „Entscheidend ist immer die Frage, ob jemand mit seinen Worten einen anderen verletzen will - oder nicht.“

Ein Beispiel aus dem kommunalen Umfeld führte Tübingens Oberbürgermeister ebenfalls an: „Wenn sich in unserem Stadtpark ausschließlich gambische Staatsangehörige als Drogendealer betätigen, dann ist das so. Und dann ist es auch kein Rassismus, wenn ich das so benenne.“ Ebensowenig sei es Rassismus, wenn die Polizei deswegen junge Männer, die gambische Staatsbürger sein könnten, auf Drogen kontrolliert, nicht aber die ältere Dame, die im gleichen Park auf einer anderen Bank sitzt.

Trotz anderer Sicht auf manche Dinge ist Boris Palmer insgesamt derselben Meinung wie alle anderen Diskussionsteilnehmer: „Wir müssen Rassismus entschieden bekämpfen.“ Am besten gelinge das durch Toleranz, Rücksichtnahme und Offenheit gegenüber anderen: „Die Frage ist, ob wir mit einer Vorwurfshaltung in eine Diskussion gehen oder ob wir versuchen, einander zu verstehen.“

Letzteres hatte der Reutlinger Noch-Landtagsabgeordnete Ramazan Selcuk (SPD), der seine Kindheit in Kirchheim verbracht hat, bereits zuvor folgendermaßen formuliert: „Ich bin zurückhaltend, jemanden gleich als Rassist zu bezeichnen. Aber Menschen machen rassistische Äußerungen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Oft sind das nur Kleinigkeiten, aber gerade dafür ist eine Sensibilisierung wichtig.“

Gleiche Chancen für alle

Zum Fall, dass man mit deutschem Namen leichter zum Vorstellungsgespräch eingeladen wird als mit türkischem Namen, sagte er: „Ich will niemanden dazu zwingen, dass er Frau Öztürk einstellt. Aber sie sollte wenigstens die Chance bekommen, sich vorzustellen.“ Deshalb plädiert Ramazan Selcuk für anonymisierte Bewerbungen.

Yalcin Bayraktar, Esslingens Bürgermeister für Ordnung, Soziales, Bildung, Kultur und Sport, berichtete von eigenen Jugend-Erfahrungen, einen ganzen Abend lang in keiner Disco Einlass zu finden und so das Gefühl vermittelt zu bekommen, dass man nicht dazugehört. Er sprach sich für einen sensibleren sprachlichen Umgang aus, warnte aber zugleich vor der Gefahr, dass eine Diskussion schnell in elitäres Fachsimpeln ausartet, „ohne dass die große Mehrheit mitgenommen wird“.

Karimael Buledi von der Initiativgruppe Homosexualität Stuttgart verwendete das Bild von vielen kleinen Sandkörnern, die zu einer Wüste werden können. So sei es auch mit kleinen rassistischen Nadelstichen im Alltag: „Wenn Menschen auf Vorurteile reduziert werden, ist das Rassismus, und dabei gibt es keine Objektivität. Es geht ums subjektive Empfinden.“

Das Bewusstsein für Rassismus gelte es zu erweitern, meinte Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Der historische Zusammenhang reiche weit zurück: „Das Problem in der heutigen Gesellschaft lässt sich auf kolonial-rassistische Erfahrungen zurückführen.“

Kirchheims Oberbürgermeister Pascal Bader stellte fest: „Rassismus entsteht oft durch Unkenntnis. Wenn ich etwas nicht kenne, habe ich Angst davor.“ Mit Blick auf Boris Palmer zog er das Fazit: „Vielleicht sind wir uns beim Weg nicht immer einig, aber beim Ziel. Wir müssen das Thema Rassismus stärker ins Bewusstsein bringen.“