Kirchheim

Gestern Industrie, heute Natur

Geschichte 70 Jahre lang wurde zwischen Unterensingen und Wernau Kies im großen Stil abgebaut. Das ist heute nur noch wenigen bekannt. Von Daniela Haußmann

Wer auf dem schnellsten Weg über die Bundesstraße 313 von Plochingen nach Nürtingen fährt, lässt sprichwörtlich ein ehemaliges Kiesabbaugebiet links liegen, das früher von Kirchentellinsfurt bis Stuttgart reichte. Pauline und Gottlieb Röhm zählten zu den Ersten, die hier in der Gegend den begehrten Rohstoff förderten. Die beiden Gast- und Landwirte fällten 1890 sicherlich nicht zufällig den Entschluss, in einen neuen Geschäftszweig zu investieren. Im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Südwesten zum Wirtschaftsraum. So sorgte der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zusammen mit dem zunehmenden Siedlungs- und Straßenbau für einen wachsenden Rohstoffbedarf.

Mit einer „flusspolizeilichen Genehmigung“, die laut Peter Röhm im Grunde einer Baugenehmigung gleichkam, legten seine Großeltern den Grundstein für die heute in Wendlingen ansässige Röhm-Gruppe. „Mit Spitzhacke, Schaufel und Pferdekarren zogen rund 20 Beschäftigte auf beiden Seiten der Unterboihinger Ulrichsbrücke den Kies aus dem Wasser“, erzählt der Geschäftsführer. „Das war harte Knochenarbeit, die sich auf Zeiten beschränkte, in denen der Neckar wenig Wasser führte.“

Letzte Zeugen eines umfangreichen Kiesabbaus in der Talaue des Neckarbeckens: die Wernauer Baggerseen. Archiv-Foto: Haußmann
Letzte Zeugen eines umfangreichen Kiesabbaus in der Talaue des Neckarbeckens: die Wernauer Baggerseen. Archiv-Foto: Haußmann

So waren die Gesteinsanlandungen, die der Fluss nach jedem Hochwasser hinterlassen hatte, für den Abbau gut zugänglich. „Bis zu 40 000 Kubikmeter Material konnten in dieser mühevollen Handarbeit jährlich gefördert werden“, schätzt Peter Röhm.

1896 begann nach Angaben des Umweltministeriums in Wernau nachweislich die kommerzielle Kiesgewinnung. Der Wandel von der Wiesenlandschaft zum Abbaugebiet vollzog sich nur langsam, weil die Bauern auf die ertragreichen Futterwiesen, die der Neckar regelmäßig überflutete, nicht verzichten konnten. Fehlende Technik, aber auch der hohe Grundwasserstand ließen damals noch keine größeren Eingriffe zu. Wieder waren es die Röhms, die mit viel Pioniergeist eine Dampfbaggermaschine kauften, die im Jahr 1900 dank Trenntechnik nicht nur Kies aus dem Flussbett förderte, sondern auch Sand. „Das Material wurde auf kleine kastenförmige Boote verladen. Diese sogenannten Klappschuten transportierten das geförderte Gestein zum Ufer, wo es sofort in einen riesigen Silo wanderte, unter dem sich Laster parken und direkt mit dem gespeicherten Schüttgut beladen ließen“, erzählt Peter Röhm. Für die damalige Zeit ein technischer Quantensprung.

Und während in Unterboihingen schon seit fast zwei Dekaden kräftig Kies gescheffelt wurde, begann bei Pfauhausen erst 1908 der gewerbliche Abbau. Heute wird sich kaum jemand an den Ort erinnern, aus dem 1938 durch die Zusammenlegung mit Steinbach die Stadt Wernau hervorging. Mit einer Kübelbahn, die auf drei Pfeilerpaaren ruhte, transportierte die Kies- und Sandbaggerei Pfauhausen die Bodenschätze über Straße und Fluss zu einer Verladestation an der Bahnlinie. Bis die Kiesgrube 1932 von der Firma Schauffele übernommen wurde, war die Umwandlung der Kultur- in eine Seenlandschaft mithilfe des technischen Fortschritts rasant vorangetrieben worden.

1939 erreichte die Baustoffgewinnung die Randzonen heutiger Wasserflächen im Naturschutzgebiet Wernauer Baggerseen. Unterdessen waren bis 1938 die Gesteinsvorkommen in Unterboihingen vollständig ausgebeutet worden. Ab 1939 förderte die Familie Röhm im Wendlinger Gewann Neckarwasen und ab 1940 im Unterensinger Gewann Rank Sand und Kies zutage.

„Unsere Firma erhielt damals den Auftrag, Baustoffe für die Reichsautobahn zu liefern“, erzählt Peter Röhm. „Zwischen Denkendorf und Kirchheim verlegten wir deshalb entlang der künftigen Fernstraße Schienen für eine Schmalspurbahn.“ Deren Loren wurden im Werk beladen und mit der Lok zum Einsatzort gezogen, wo das Material sofort in den Unterbau wanderte. Auch wenn in Wernau, Unterensingen und Wendlingen im Verlauf der Sechzigerjahre der Abbau endete, darf nicht vergessen werden, dass es Gegenstimmen gab. Der großflächige Landschaftsverbrauch, aber auch die wilde Verfüllung der Baggerseen mit Bauschutt und Müll ließen den Ruf nach einer Schutzverordnung laut werden.

Auf Betreiben des württembergischen Landesbeauftragten für Natur und Landschaftspflege wurde im September 1942 eine entsprechende Verordnung erlassen. In der Praxis fand sie keinerlei Beachtung, wie es in dem Buch „Naturschutzgebiet Wernauer Baggerseen“ heißt. Dass der Gesteinsabbau manchen ein Dorn im Auge war und irgendwann sogar den Landesbeauftragten auf den Plan rief, wundert angesichts historischer Luftbilder nicht. Entstanden in der Hochphase des Abbaus, zeigen die Fotos, wie sich von Kirchentellinsfurt bis Stuttgart ein Baggersee an den anderen reiht.