Kirchheim

Kritiker infiziert Besucher mit Humor und Wissen

Lesung Der Literaturkritiker Denis Scheck stellt in der Buchhandlung Zimmermann sein Buch „Schecks Kanon“ vor.

Kirchheim. Findet die Veranstaltung trotz Coronavirus statt? Bei der Leiterin der Buchhandlung Zimmermann, Sibylle Mockler, stand das Telefon nicht still. Sie konnte versichern, dass sie stattfindet und dass der Autor kommt, befürchtete aber trotz ausverkauftem Haus, dass einige Zuhörer wegbleiben. Doch die Befürchtungen waren unbegründet. Alle waren da. Denis Scheck, „der bekannteste Literaturkritiker der Republik“, bekannt durch Sendungen im ersten und dritten Fernsehprogramm, kommt schon zum dritten Mal nach Kirchheim und hat dort sein treues Publikum.

Diesmal stellte er keine Bücher von anderen Autoren vor, sondern war selbst Autor, und zwar von „Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Struppi“. Dieses ambitionierte Unternehmen erfordert eine Begründung. Scheck liefert sie im Vorwort, das er vortrug.

Literaturkanons gibt es schon immer. Da sich die Zeiten weiterentwickeln und sich verändern, müssen es auch die Kanons tun - auch in der heutigen Zeit, denn das Buch wird trotz neuer Medien weiter bestehen. Davon, und von der Notwendigkeit des Lesens, ist Scheck überzeugt. Für seinen Kanon gilt die Leitlinie: „Ich möchte einen ‚wilden‘ Kanon vorschlagen, einen Kanon, der weder Sprach- noch Genregrenzen respektiert und sich nicht um Gattungen oder Epochen schert. Einen Kanon, der nicht auf Literatur in deutscher Sprache begrenzt ist und auf die absurden Nationalphilologien des 19. Jahrhunderts schlicht pfeift.“ Als Maßstab für die Auswahl setzt er: „Es gibt in meinen Augen nur einen echten Goldstandard in der Literatur: wenn er meinen Blick auf die Welt nachhaltig verändert.“

Bei der Auswahl seiner Autoren aus seinem Kanon lässt sich Scheck von seiner jeweiligen Nähe zu ihnen leiten, die sich immer wieder ändert. In Kirchheim beginnt er mit dem Werk „Stolz und Vorurteil“ von der englischen Autorin Jane Austen. Bei dieser Liebesgeschichte verändere sich die Wahrnehmung des Lesers: „Nach Austen ist nicht wie vor Austen.“ Wie bei der Lektüre von Kafka, dem nächsten Autor. Der Weg zu Kafka war für Scheck schwer, er hat ihn geradezu „gehasst“. Doch schließlich wurde es der Beginn „einer wunderbaren Freundschaft“. Kafka ist unerbittlich mit der Sprache. Mit einer strengen Auswahl erzählt er von einem Leben, das „blindwütigen Gewalten“ ausgeliefert ist. Das hat sich in seiner Rezeption als „kafkaesk“ verfestigt. Doch der Autor weist auch auf den „lebendigen, vollkommen unausrechenbaren, lachenden Kafka“ hin, siehe Tagebücher.

Als nächsten Autoren holte Scheck den einstmals bedeutenden Ernest Hemingway aus der Vergessenheit. Er schätzt bei ihm „den Dreiklang aus Liebe, Schönheit und Tod“, exemplifiziert an der Geschichte „Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber“. Scheck blieb auch bei seinem nächsten Beispiel mit Dorothy Parker bei der amerikanischen Literatur. Sie ist eine Autorin, deren Texte „Hilfe, Trost und Rat bieten, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht und ich nicht mehr aus noch ein weiß“.

Im Schlusstext der Sammlung geht es auch um eine Frau, Hypatia, von der keine Zeile überliefert ist. Von ihrer Biografie weiß man nur, dass sie um 400 nach Chris­tus gelebt hat, als Mathematikerin und Philosophin sogar in der Öffentlichkeit aufgetreten ist und deshalb von fanatischen Christen umgebracht wurde.

Bei seiner Lesung besticht der Kritiker durch viel Wissen. Dabei mangelt es ihm nicht an Selbstbewusstsein, aber auch nicht an Selbstironie. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten: Bei der Lesung hat doch eine Infektion stattgefunden. Man wurde vom Redner zum Lesen angesteckt. Ulrich Staehle