Kirchheim

Literatur für Feinschmecker geboten

Lesung Christian Fries erzählt Georg Büchners „Lenz“ im Spitalkeller mit großer Leidenschaft.

Kirchheim. Wieder ist man fasziniert von der Art, wie Christian Fries einen Text dem Publikum nahebringt. Er liest ihn nicht vor, er erzählt ihn Aug in Aug. Der Körper „spricht“ mit. Das kennen wir schon vom vergangenen Mal bei der Präsentation von Thomas Bernhards „Der Untergeher“. Bei dem neuen Text scheint die Übermittlung besonders intensiv zu sein. Wie aus einem vorgelegten Textblatt hervorgeht, fühlte sich Fries von Büchners „Lenz“ persönlich angesprochen und hat sich mit ihm auseinandergesetzt.

Büchners relativ kurzer Text hat eine besondere Geschichte. Der Autor schrieb ihn eigentlich für eine Zeitschrift, die von der Zensur verboten wurde. Deshalb wurde er erst posthum veröffentlicht. Er ist gattungsmäßig schwer einzuordnen, und es ist fraglich, ob ein Fragment oder die Endfassung vorliegt. Trotzdem oder gerade deshalb übt der Text bis in die Gegenwart eine unvergleichliche Strahlkraft aus. Er gehört mittlerweile zum Kanon deutscher Literatur. Allein die verschiedenen Verfilmungen bezeugen das.

Büchner greift auf die Aufzeichnungen des Pfarrers Oberlin zurück. Oberlin lebte im Steintal und berichtet vom dreiwöchigen Aufenthalt des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz in seinem Haus. Büchner fühlte sich sicherlich davon angesprochen, weil es viele Parallelen zwischen ihm und Lenz gab. Lenz sucht bei dem Pfarrer Oberlin und in den Vogesen Linderung von seinen existenziellen Leiden. Er leidet vor allem unter manisch-depressiven Wechselstimmungen. Die breite Naturschilderung bei seiner Wanderung „durchs Gebirg“ bringt das anfangs zum Ausdruck: Teils fühlt er sich allmächtig über Raum und Zeit, dann wieder klein und verloren. Oberlin empfängt ihn freundlich und rät ihm, sich an Gott zu wenden und an Christi Opfertod zu denken. Aber Lenz findet in der Religion nur kurzfristigen Halt. Um sich seiner selbst zu vergewissern, fügt er sich Schmerzen zu, versucht, sich mit kaltem Brunnenwasser zu „reinigen“. Traum und Wirklichkeit verschwimmen. In einem Anfall von Allgewalt versucht er, ein totes Kind aufzuerwecken. Notwendigerweise vertieft sich die Depression und es folgen Selbstmordversuche.

Am klarsten äußert sich Lenz im Sinne Büchners im „Kunstgespräch“ mit dem Dichterkollegen Kaufmann, der zu Besuch kommt. Lenz lehnt die stilisierten Theaterfiguren der Klassik à la Schiller ab und plädiert für eine Dichtung, die sich mit der Welt und den Menschen befasst, „wie Gott sie geschaffen hat“, also auch mit Menschen niederen Stands. Lenz hat es mit seinen Theaterstücken „Der Hofmeister“ und „Die Soldaten“ versucht. Sie werden heute durchaus noch aufgeführt.

Der Druck auf Georg Büchners Lenz, vor allem durch seinen Vater, der verlangt, heimzukommen und einen Beruf auszuüben, wird immer stärker. Auch Oberlin befürwortet das. Lenz reagiert entsetzt. Wie Büchner formuliert, „greift“ nach ihm der Atheismus. Seine Welt „hat einen ungeheuren Riss“. Völlig apathisch, nach außen hin gesellschaftlich funktionierend, lässt er sich abtransportieren. „So lebte er hin.“ Anders als der historische Dichter Lenz. Dieser wurde im Alter von 41 Jahren in einer Moskauer Straße tot aufgefunden.

Fries erzählt Büchners Text in freier Rede fast in voller Länge. Er schafft Zäsuren und Abwechslung durch den Einsatz eines kleinen Flötenkopfes, mit dem er Textpassagen akustisch „kommentiert“ - meist sind es schrille, schmerzhafte Töne. Für Abwechslung sorgen auch punktuell ein Mikro und Liedeinlagen, vorgetragen mit Kopfstimme. Zum Schluss lässt der Künstler zwei Streichhölzer im Dunkeln verglühen. Sie verlöschen wie Lenzens Gemüt. Christian Fries bietet Literatur für Feinschmecker. Im Spitalkeller haben sich erstaunlich wenig Gäste eingefunden. Wer sich den Leckerbissen hat entgehen lassen, bekommt noch eine Chance: Florian Stegmaier, Leiter des Kulturrings, stellt in Aussicht, dass diese literarische Delikatesse in Kirchheim im nächsten Jahr wieder angeboten wird. Ulrich Staehle