Kirchheim

Mahnendes Gedenken an die Reichspogromnacht

Geschichte In der Kirchheimer Martinskirche kamen am Samstag viele Menschen zusammen, um an den 9. November 1938 zu erinnern. Von Andrea Barner

Die 90-jährige Ursula Stöffler erzählt, wie ihre Familie im evangelischen Pfarrhaus in Köngen Verfolgte aufnahm. Das Gespräch fü
Die 90-jährige Ursula Stöffler erzählt, wie ihre Familie im evangelischen Pfarrhaus in Köngen Verfolgte aufnahm. Das Gespräch führte Peter Treuherz vom Evangelischen Bildungswerk im Landkreis Esslingen. Foto: Günter Kahlert

Am 9. November 1938 brennen in Nazi-Deutschland Synagogen und jüdische Geschäfte. Schlägertrupps ziehen johlend und plündernd durch die Straßen, es gibt viele Tote und Verletzte. Der schwelende Hass auf Menschen jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung eskaliert und wird zum Flächenbrand. Am Ende des Holocaust wurden bis zu sechs Millionen Menschen Opfer des Antisemitismus. Und heute? „Es wird berichtet, dass jeder vierte Deutsche antisemitisch denkt“, sagt Peter Treuherz vom Evangelischen Bildungswerk im Landkreis Esslingen. Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker denkt mit Grausen an den Angriff auf die Synagoge in Halle, an bagatellisierende Sprüche wie „Vogelschiss der Geschichte“, „Denkmal der Schande“ oder Millionen hasserfüllter, rechtsextremer Kommentare in den Sozialen Medien.

Vor der Gedenkstunde gab es eine stille Mahnwache auf dem Martinskirchplatz. Kirchheimer halten Kerzen in den Händen und denken an die Kinder, Frauen und Männer, die der menschenverachtenden Ideologie zum Opfer gefallen sind. Im gefüllten Kirchenschiff erfahren sie dann aus erster Hand, dass mit Hilfe der „württembergischen Pfarrhauskette“ aktiver Widerstand geleistet wurde.

„Hoffnung in dunkler Zeit: Menschen beweisen Mut“. So tituliert Pfarrer Dr. Joachim Hahn seinen Vortrag über Max und Ines Krakauer. Er zeichnet den Fluchtweg auf, den das jüdische Ehepaar 27 Monate lang gegangen ist, um dem Holocaust zu entkommen. Ein Netzwerk aus mehr als 40 Pfarrhäusern hat diesen beiden und mindestens 17 weiteren Verfolgten dabei geholfen, die Vernichtungsmaschinerie zu überleben. Hahns ganz persönlicher Bezug zu diesem Thema ist das evangelische Pfarrhaus in Reichenbach neben der ortsbildprägenden Mauritiuskirche. Dort ist der Pfarrersohn aufgewachsen. Von dort aus hat einer der Amtsvorgänger seines Vaters, Theodor Dipper, die württembergische Pfarrhauskette maßgeblich organisiert.

Familie Krakauer wollte auswandern, nachdem sie ihre berufliche Existenz verloren hatte, nur die Tochter Inge schaffte es 1939 nach England. Max und Ines entgingen der Deportation. Sie tauchten in Berlin ab, 1943 begann ihre Odyssee zunächst nach Pommern. Mit falschen Pässen unter dem Namen „Ackermann“ gelangten sie nach Stuttgart. Bis Kriegsende pendelten sie zwischen den Pfarrhäusern, mal nur für eine Nacht, mal ein paar Wochen lang. Mit Hilfe mutiger Bürger und unter größter Verschwiegenheit aller Beteiligten überlebten sie. In der Kirchheimer Paradiesstraße fand Ines Krakauer mehrere Wochen lang Unterschlupf bei der Handarbeitslehrerin Martha Hünlich. Letzte Station vor dem Kriegsende war das Pfarrhaus in Stetten im Remstal. Max Krakauer veröffentlichte 1947 unter dem Titel „Lichter im Dunkeln“ ein viel beachtetes Erinnerungsbuch.

Im Mittelpunkt der Gedenkstunde steht Ursula Stöffler: Die über 90-jährige Zeitzeugin ist die Tochter des ehemaligen Kirchheimer Dekans Eugen Stöffler und seiner Frau Johanna. Sie besuchte das Kirchheimer Gymnasium, erlebte ihre Kindheit und Jugend aber im Köngener Pfarrhaus, wo ihr Vater seit 1928 als evangelischer Pfarrer tätig war. Dort kamen in den ganzen Jahren stets „Verwandte“ oder „Ausgebombte“ zu Besuch. „Natürlich wussten wir ganz genau, dass es sich dabei um Juden handelte.“ Mit ihren sechs Kindern hatten die Eltern offen gesprochen. „Der Haushälterin haben wir nichts gesagt, aber die wusste trotzdem Bescheid“, erzählt Ursula Stöffler. Während die jüdischen Gäste in manchen Pfarrhäusern in Verstecken hausten, nahmen die Leute bei den Stöfflers ganz normal am Leben teil und gingen auch in den Ort. Auf Rituale und Gepflogenheiten des jüdischen Glaubens verzichteten die Gäste allerdings in dieser Zeit. „Bloß als meine Schwester Ruth mal ganz stolz eine Metzelsupp‘ auf den Tisch stellte, haben sie nicht mitgegessen.“ Das Mittagessen, so erinnert sich die alte Dame, war ein zentraler Punkt im Tagesablauf der Stöfflers: „Meine Aufgabe war es immer, den Mittagstisch zu decken.“ Ein gehöriger Aufwand, denn mit Eltern, Kindern, der Haushälterin und Gästen saßen in der Regel gut zwölf Personen am Tisch. Mit all ihren Erinnerungen an diese Zeit ist Ursula Stöffler auch im hohen Alter noch froh, dass für ihre Familie alles gnädig ausgegangen ist. „Ich bin auch dankbar, dass wir ein bisschen helfen konnten. So etwas darf sich nicht wiederholen.

Die Gedenkstunde in der Martinskirche fand in feierlichem Rahmen statt. Zwei Schülerinnen des Schlossgymnasiums, Marlene Luise Hahn und Lisa Wagner, lasen aus dem Buch von Max Krakauer aus dem Alltag Verfolgter vor. Begleitet wurde die Veranstaltung von Schülern der Musikschule Kirchheim unter Leitung von Takashi Otsuka.