Kirchheim

Mutig, aber nicht tragfähig

Theater Die Landesbühne Memmingen hat Kafkas Klassiker „Die Verwandlung“ in der ­Kirchheimer Stadthalle auf die Bühne gebracht. Von Ulrich Staehle

Kaum ein anderes Werk deutscher Sprache hat so viele Deutungen erfahren wie Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Dabei sind es nicht mehr als siebzig Druckseiten, in denen vom Handlungsreisenden Gregor Samsa die Rede ist, der eines Morgens als Käfer aufwacht. Doch diese paar Seiten gehören zu den großen Texten der Weltliteratur. Nun ist das Landestheater Schwaben aus Memmingen in die Kirchheimer Stadthalle gekommen, um vorzuführen, wie es aus einem erzählenden Text ein Theaterstück gemacht hat und welche Deutung es dem Text gibt.

Das zugleich Beklemmende und Faszinierende für die Leser der Erzählung besteht darin, dass die Verwandlung in ein „Ungeziefer“ kein Albtraum ist, der verschwindet, sondern ein Zustand, der bleibt. Dieser Mensch in Käfergestalt hat es unausweichlich mit seiner Familie, dem Prokuristen seiner Firma und mit den Untermietern zu tun. Er wird in seinem Zimmer eingesperrt, verreckt und wird als Müll entsorgt.

Interpreten deuten die 1912 entstandene Erzählung Kafkas je nach Fragestellung beispielsweise biografisch: Handelt es sich um ein Gefühl der Isoliertheit Kafkas von seiner Umwelt? Oder soziologisch: Wird die Brüchigkeit der Kleinfamilie vorgeführt? Das schlechte Verhältnis zu seinem Vater hat er im „Brief“ artikuliert. Oder sozialkritisch: Wird der Kapitalismus mit seinen ausbeuterischen Arbeitsbedingungen angeprangert? Der Text hat auch darin seine Strahlkraft bewiesen, dass er Vorlagen für Verfilmungen, für eine Oper und für das Theater lieferte.

In der Kirchheimer Stadthalle öffnet sich auf der Bühne eine große Kiste. Daraus krabbeln drei männliche Gestalten, bekleidet mit Unterhosen und klarsichtigen Plastik-T-Shirts. Die Gestalten tragen verschiedene „Etiketten“ auf der Hose: „Ich“, „Über-Ich“ und „Es“. Die Inszenierung hat sich also für den psychologischen Zugang zum Text entschieden. Gregor Samsa ist nach dem Freudschen Strukturmodell der Psyche in dreifacher Person vorhanden. Kafkas Erzähltext wird unter diesen Figuren aufgeteilt. Das „Ich“ äußert sich, wenn Gregor aus dem eigenen Selbstbewusstsein heraus spricht, das „Über-Ich“, wenn Vater oder Mutter etwas sagen, und das „Es“, wenn es um Befürchtungen und Ängste geht.

Der Überblick geht verloren

Das ist ein mutiger Zugriff für ein kleines Theater, in Memmingen auf einer kleinen Studiobühne ausprobiert. Doch in der weitläufigen Stadthalle und im weiteren Verlauf stellt sich heraus: Die Konzeption erweist sich nicht als tragfähig. Ziemlich schnell geht der Überblick verloren. Dazu trägt bei, dass auch noch Rollenwechsel stattfinden, die Figuren sind auch noch Vater, Mutter und Schwester. Und ab dem zweiten Akt sprechen einzelne Figuren in der Ich-Form. Es läuft darauf hinaus, dass verschiedene Sprecher Textpassagen aus Kafkas Text vortragen, mit möglichst viel stimmlichem Einsatz und möglichst vielen Bühnenaktionen. Zu ihnen gehört, dass der Text in drei Akte aufgeteilt wird, wobei in Akt zwei ein Wechsel der Darstellungs- und der Interpretationsebene stattfindet. Mit schriller Gitarrenmusik und einem Song wird der Kapitalismus mit seiner Ausbeutung angeprangert.

Im dritten Akt wird in einer Schlammschlacht die zunehmende Vermüllung der Existenz des Käfers Gregor sinnlich erfahrbar gemacht. Es ist also etwas geboten für Auge und Ohr, auch bei den eingestreuten Reflexionen über den Text oder bei den Kostümen.

Auch wenn nicht alles eingeleuchtet hat, so wurde Mut und Einsatz doch mit anerkennendem Beifall belohnt. Und wenn der Theaterabend dazu angeregt hat, nach den siebzig Seiten Weltliteratur zu greifen, so hat er sich auf jeden Fall gelohnt.