Kirchheim

Mystische Objekte aus dem Keimlabor

Kunst Hannelore Weitbrecht aus Kirchheim lässt sich nicht erst seit Corona von ihrer Umwelt inspirieren und kombiniert Naturmaterialien und Papier zu filigranen Werken, in denen der Mensch nicht vorkommt. Von Petra Bail

Die Kirchheimer Künstlerin Hannelore Weitbrecht in ihrem „Labor“, dem Atelier. Die Resonanz des Publikums fehlt so langsam.Fotos
Die Kirchheimer Künstlerin Hannelore Weitbrecht in ihrem „Labor“, dem Atelier. Die Resonanz des Publikums fehlt so langsam. Fotos: Petra Bail
Wie zwei Bärenklauen mutet das zweiteilige Werk „Dialog“ an, das aus Pflanzenschoten und geschichtetem Seidenpapier besteht.
Wie zwei Bärenklauen mutet das zweiteilige Werk „Dialog“ an, das aus Pflanzenschoten und geschichtetem Seidenpapier besteht.

Hannelore Weitbrecht gilt als eine Pionierin in Sachen Natur-Kunst. Die Natur dient der Kirchheimer Künstlerin nicht erst seit Corona als Inspirationsquelle für ihre außergewöhnlich zarten Objekte und geheimnisvoll-raumgreifenden Installationen. Aus Samenkapseln, Schoten, Fruchtkernen, Blättern, Zapfen und trockenen Blüten schafft sie in Kombination mit Papier zeitlos-schöne Kunst-Stücke. Für ihr Schaffen wurde die in Waldshut geborene Künstlerin im vergangenen Jahr mit dem Naturenergie-wFörderpreis des Hans-Thoma-Kunstmuseums Bernau ausgezeichnet.

Die Serie „Pflanzenversuchsfeld“ ist eine Art Keimlabor, mit dem sie auf zunehmende Monokulturen hinweist, die die Artenvielfalt gefährden. Die Veränderungen in der Natur sind in ihren fragilen Arbeiten nachvollziehbar. Die Objekte wirken verletzlich. „Die Ästhetik der Dinge zeigt, dass unsere Natur schützenswert ist“, sagt die vielfach ausgezeichnete Künstlerin, die von 2001 bis 2004 im Rahmen des Atelierstipendiums des Landkreises Esslingen im Kulturpark Dettinger in Plochingen arbeitete.

Hannelore Weitbrecht studierte Malerei an der Freien Kunsthochschule Nürtingen und begann Anfang der 90er Jahre mit Papierobjekten und raumbezogenen Installationen zu experimentieren, die trotz der skulpturalen Inszenierung immer etwas Malerisches haben. Vor allen Dingen laden sie die Betrachtenden dazu ein, sich mit dem Naturmaterial auseinanderzusetzen. „Viele sind erstaunt über die Komponente, die sie doch jederzeit in der Natur sehen könnten“, stellte Weitbrecht schon oft fest. Die Schichtungen, Reihungen, Strukturierungen erinnern in ihrer Eindringlichkeit auch daran, dass die Natur vergänglich ist, wenn der Mensch sie nicht sorgfältiger behandelt.

Die raumgreifende Installation „Invasion“ ist ein Zeichen der Gefährdung. Die vielgliedrige Arbeit entstand 2003 bis 2009 und hat eine verblüffend aktuelle Aussage in beängstigenden Corona-Zeiten. Eine undefinierbare Bedrohung geht von den kleinen, mit Papier umwickelten Drahtfiguren aus, die von der Wand herab scheinbar ziellos über den Boden strömen. Die Dynamik deutet auf eine Gefahr hin, aber die Situation ist nicht eindeutig. Ihre Arbeiten sind mystisch und vieldeutig. „Das ist auch gut so“, sagt Hannelore Weitbrecht. Die persönliche Resonanz des Publikums ist ihr wichtig. Ob jemand Buchsbaumzünsler oder Flüchtlinge darin erkennt, das sei Temperamentssache: „Ich bin offen für Interpretationen.“

Die Natur ist ihre künstlerische Impulsgeberin. „Stielblüten“ haben bei Weitbrecht eine besondere Bedeutung. Das Objekt schwankt zwischen abstrakt und figurativ und ist doch von verblüffender Standfestigkeit. Auch „Dialog“ weckt Assoziationen. Wie Bärenklauen ragen die Pflanzenschoten aus den geschichteten und wie zu Tatzen geklebten Seidenpapieren der Arbeit: Sie können ineinandergreifen, aber sie können genauso gut angreifen.

„Ich bilde die Natur nicht ab, sondern übernehme, was die Natur bietet, in einen künstlerischen Kontext“, sagt die Künstlerin. Sie begreift ihre Arbeit als Prozess. Für die Wissenschaft des Schönen erntet sie im Garten, im Wald und auf Fel-dern. Im lichtdurchfluteten Atelier unterm Dach ihres Wohnhauses werden die Schätze in geräumigen Schubladen nach Sorten sortiert und aufbewahrt - so lange, bis sich die 69-Jährige zu einer Arbeit inspiriert fühlt und die subtilen Formen entwickelt. Der Mensch kommt nicht vor in Hannelore Weitbrechts Objekten, doch seine Einflüsse sind nachvollziehbar.

Zahlreiche Beispiele der sinnlichen Kunst, die fast ganz ohne Farbe auskommt und bei aller Deutlichkeit in der Aussage, sehr leise ist, zieren Wohnräume und Atelier. Mehr Möglichkeiten sind derzeit nicht drin. Im vergangenen Jahr kam Weitbrecht durch den Förderpreis und eine Auftragsarbeit für eine Bankfiliale über die Runden. Auch wenn man als freischaffende Künstlerin keine Vollkaskomentalität entwickle, müssten Perspektiven her. Nach so langer Zeit des Stillstands fehle die Resonanz des Publikums und der Galeristen, aber auch Kommunikation und Austausch. Keine Ausstellungen, das heisst auch, dass Einnahmen fehlen.

...