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Opas Leben verewigt

Zeitgeschichte Bei der Vorstellung von Iris Lemanczyks Buch „Brennnessel-Haut“, einer Geschichte über die Verfolgung von Sinti und Roma, sind besondere Gäste eingeladen: die Familie des Protagonisten Kajetan. Von Silja Kopp

Die Autorin Iris Lemanczyk mit ihren Gästen Rosana, Harald und Oliver Reinhardt (von links).Foto: Markus Brändli
Die Autorin Iris Lemanczyk mit ihren Gästen Rosana, Harald und Oliver Reinhardt (von links).Foto: Markus Brändli

Eine kleine Zeitreise zurück in die deutsche, dunkle Vergangenheit: Bei der Buchvorstellung von Iris Lemanczyk in der Lindachschule konnte diesmal nicht nur zugehört werden. Besonders war bei dieser Lesung, dass die Familie der zentralen Figur im Buch zur Gast war und Fragen der Zuhörer zu Kajetan beantwortete.

Das Buch „Brennnessel-Haut“ wurde 2020 veröffentlicht und beruht auf einer wahren Geschichte. Es handelt von einer Freundschaft während des Dritten Reiches, zwischen Kajetan Reinhardt und Heiner Geißler, dem ehemaligen CDU-Politiker. Kajetan Reinhardt gehört zur Gruppe der Sinti und Roma, wurde deshalb gehänselt, ausgeschlossen, später verfolgt und mit seiner Familie ins Arbeitslager geschickt.

„Schwäbische Zigeuner“

Iris Lemanczyk hat bei der Recherche für ihr Buch mit Heiner Geißler telefoniert und sich mit Kajetan Reinhardt in Ulm getroffen. „Als ich Kajetan fragte, ob er Protagonist in meinem Buch werden möchte, hat er gleich ‚Ja‘ gesagt“, erzählt sie. Die Veröffentlichung des Buches haben beide Hauptfiguren nicht mehr miterlebt. Dafür hat die Familie von Kajetan Reinhardt eine wertvolle Erinnerung an die Lebensgeschichte ihres Vaters und Großvaters. Oliver Reinhardt ist der Enkel von Kajetan. Er und seine Eltern Rosana und Harald Reinhardt leben in der Nähe von Ulm. „Wir sind die schwäbischen Zigeuner“, stellt sich die Familie bei der Fragerunde nach der Lesung vor und lacht. Schnell wird deutlich, wie locker sie heute mit Diskriminierung umgehen. „Zigeuner“ ist für sie nicht unbedingt ein negativer Begriff. „Es kommt darauf an, in welchem Kontext und auf welche Art und Weise das Wort benutzt wird“, stellt der Vater fest. Die Eltern reden sehr positiv über ihre Kindheit und Jugend: Sie waren immer gut integriert und können sich nicht an Ausgrenzung oder Diskriminierung erinnern. Bei der Vorstellung des Buches sind auch Bekannte von Rosana Reinhardt da, die früher mit ihr zur Schule gegangen sind. Eine ehemalige Klassenkameradin erzählt, dass es in der Stadt durchaus noch Vorurteile gegenüber den ­Reinhardts gab.

Es scheint, als hätten junge Generationen die Vorbehalte gegenüber Sinti und Roma abgelegt, allerdings auch ihr Wissen über deren Ausgrenzung und Verfolgung. Oliver Reinhardt merkt, dass viele seiner Freunde gar nicht wissen, was ein Zigeuner ist.

Die Familie Reinhardt hat den Vater und Großvater als sehr positiven und aufgeschlossenen Menschen in Erinnerung. Kajetan war Musiker, Mitglied in Vereinen und tanzte gerne. Ursprünglich kam er aus Ravensburg, wurde während des Krieges ins Arbeitslager Ummenwinkel verschleppt, besuchte aber später wieder seine Heimatstadt - und traf dort alte Bekannte, die er in positiver, teils aber auch in negativer Erinnerung hatte. Allerdings ließ er dem Negativen keinen Raum. „Er hat die schlimmen Erlebnisse im Dritten Reich abgehakt und hat mit niemandem gehadert“, erzählt Harald Reinhardt. „Nach dem Krieg hat man sich über jeden Menschen gefreut, den man von früher kannte. Man war einfach froh, überlebt zu haben“, erklärt er das Verhalten seines Vaters. Kajetan Reinhardt hatte trotzdem ein großes Mitteilungsbedürfnis und erzählte seinen Kindern relativ früh von seinen Erlebnissen. „Als Kind hat man vieles nicht verstanden und einfach ausgeblendet“, antwortet Harald Reinhardt auf die Frage, wie er mit der Vergangenheit seines Vaters umgegangen sei.

Auch dem Enkel Oliver hat Kajetan Reinhardt seine Geschichten erzählt, als der etwa 14 Jahre alt war. Im damaligen Alter haben ihn die Erzählungen noch nicht so sehr berührt. „Durch das Buch hab ich vieles erst richtig realisiert, was mir mein Großvater früher erzählt hat“, meint Oliver Reinhardt und macht klar: „Ich habe dadurch erst verstanden, was Diskriminierung eigentlich bedeutet und wie gut es mir hier geht.“ Er freut sich über die Arbeit von Iris Lemanczyk und sagt stolz: „Wer hat schon ein Buch über das Leben seines Opas, das man später seinen Kindern zeigen kann?“

Iris Lemanczyk liest in der LIndachschule Jesingen aus "Brennnesselhaut"
Iris Lemanczyk liest in der LIndachschule Jesingen aus "Brennnesselhaut"