Kirchheim
Pflegedienste suchen neue Märkte

Corona Im Frühjahr brach über Nacht der Betreuungsnotstand aus, weil Kräfte aus Osteuropa wegblieben. Jetzt steigen die Infektionszahlen erneut, und doch ist vieles anders. Von Bernd Köble

Die Verbreitung eines unbekannten Virus hat im März viele Wunden offengelegt. Über Nacht wurde sichtbar, auf welch dünnes Eis die Versorgung von Alten und Kranken im häuslichen Umfeld gebaut ist. Als wegen geschlossener Grenzen und aus Furcht vor ­Corona massenhaft Pflegekräfte aus Osteuropa wegblieben, standen Angehörige plötzlich vor der F­rage: Wer springt ein?

Inzwischen sind in ganz ­Europa erneut gängige Regeln außer Kraft gesetzt. Länder wie ­Polen und ­Ungarn, woher traditionell die meisten der in Deutschland tätigen 24-Stunden-­Betreuungskräfte stammen, verzeichnen Rekordzahlen an Infizierten. Die ­zweite Corona-Welle hat die erste im Frühjahr an Wucht vielerorts längst übertroffen, und doch ist manches anders. Wachsam, aber entspannt, so ließe sich die Stimmung in der ambulanten Pflege zur Stunde beschreiben. Dass das Virus inzwischen zum Alltag gehört, ist allenthalben spürbar. Bei Angehörigen, beim Pflegepersonal und bei denen, die zwischen beiden Seiten vermitteln.

Vor Jahrzehnten hat Uta ­Kümmerle die Nachbarschaftshilfe in Bissingen aus der Taufe gehoben. Heute ist sie Regionalchefin von Care-Work, einem der größten Anbieter von Rund-um-die-Uhr-Pflege in Süddeutschland. Mehr als 500 Namen führt sie in ihrer Kartei. Zwei bis drei der Pflegekräfte, die zur Hälfte aus Polen stammen, teilen sich im Wechsel einen der rund 180 Haushalte, an die sie vermittelt. Alle sind sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Seit Beginn des Teil-Lockdowns verzeichnet Uta Kümmerle eine um 50 Prozent gestiegene Nachfrage. Häufig drängt die Zeit, weil etwa Klinik-Entlassungen anstehen und ein stationärer Heimplatz entweder nicht frei oder gar nicht gewünscht ist. „Viele wollen nicht ins Heim, weil sie sich vor Einsamkeit und Isolation fürchten“, sagt Kümmerle.

Bisher kann sie die ­Nachfrage bedienen. Zwar gilt ganz ­Osteuropa inzwischen als Risikogebiet, doch seit vergangenem Montag dürfen Pflegekräfte auch ohne Quaran­täne ins Land, sofern sie einen negativen Test nachweisen können, der nicht länger als 48 Stunden zurückliegt. „Das hat vieles vereinfacht“, sagt Uta ­Kümmerle, doch Vorbehalte gibt es. Zwar bleiben viele bewährte Kräfte jetzt einfach länger als die üblichen zwei bis drei Monate hier. Neues Personal, vor allem aus Polen und Ungarn, ist aber immer schwerer zu finden. Weil in den Ländern Testkapazitäten fehlen, aber auch, weil die Bereitschaft durch Kampagnen der Regierungen sinke, wie ­Kümmerle festellt.

Partner wie die Berliner Agentur Fair Care, mit der der ­Esslinger Pflegedienst zusammenarbeitet, haben inzwischen reagiert und werben verstärkt um Personal aus Ländern wie Kroatien oder Rumänien. Unterstützer vor Ort helfen dort beim Aufbau der nötigen Test-Infrastruktur. Fair Care bietet online zudem eine Ausbildungs-Plattform für Interessierte an. Dass sich seit Frühjahr vieles verändert hat, nimmt man auch bei kommunal geförderten Einrichtungen wie der Diakoniestation Teck wahr, die Pflegestützpunkte in Kirchheim, Weilheim und ­Lenningen betreibt. Hier gibt es nur examinierte Pflegekräfte, die zudem alle aus der Gegend stammen. Sie mussten im Frühjahr einspringen, als es über Nacht eng wurde. „Bei uns ist die Lage sehr entspannt“, meint Pflegedienst­leiter Michael Bihl, der über ausreichend und - was noch viel wichtiger ist - gesundes Personal verfügt. Beide Seiten haben gelernt, mit der Krise zu leben. „Pflegebedürftige und Angehörige sind viel beruhigter als noch im März oder April“, stellt Bihl fest. „Da wurden wir häufig abbestellt, weil die Leute niemanden ins Haus lassen wollten.“ Für mehr Vertrauen sorgt auch ausreichend Schutzausrüstung. Kleidung, Masken, Desinfektionsmittel - das alles war im Frühjahr noch knapp. Inzwischen gibt es gut gefüllte Lager.

Bihl kann Sorgen entkräften. Auch bei Kolleginnen wie Uta Kümmerle. Wenn Weihnachten vor der Tür steht, sind Pflege­kräfte aus dem Ausland trotz finanzieller Anreize nur schwer zum Bleiben zu bewegen, weiß sie aus Erfahrung. Das war schon vor Corona so und wird auch in diesem Jahr so sein. Die Helferinnen und Helfer haben zu Hause Familien. Viele sind streng gläubig. „Wegen Weihnachten mache ich mir keine Sorgen“, meint dagegen Michael Bihl. „Wo Kräfte aus Polen ausfallen, können wir helfen.“