Kirchheim

Sprachlos in Kirchheim

Corona-Krise Mit einer „Ignorance Meditation“ wollten rund 30 Menschen auf dem Kirchheimer Marktplatz ein Zeichen für die persönliche Freiheit setzen. Konkreter Protest findet eher dezent und am Rande statt. Von Thomas Zapp

So lässt es sich eine Stunde aushalten: Für die Meditation hatten die Teilnehmer unterschiedliche Positionen eingenommen. An das
So lässt es sich eine Stunde aushalten: Für die Meditation hatten die Teilnehmer unterschiedliche Positionen eingenommen. An das Schweigegebot hielten sich hingegen alle. Foto: Markus Brändli

 

Sogar Desinfektionsmittel stand bereit. Foto: Markus Brändli
Sogar Desinfektionsmittel stand bereit. Foto: Markus Brändli

Manche sitzen auf Campingstühlen und lesen ein Buch, die meisten meditieren im Schneidersitz auf den warmen Steinen des Kirchheimer Marktplatzes, manche sitzen Rücken an Rücken und scheinen ein Sonnenbad zu nehmen. Wo normalerweise geplaudert, angepriesen und manchmal auch gehandelt wird, herrscht an diesem Samstagnachmittag vor allem eins: Stille. Nicht einmal ein Plakat oder ein Zettelchen weisen darauf hin, um wen es sich bei den rund 30 Menschen handelt. Angemeldet hatten die Organisatoren bei der Stadt 100. So viel sei verraten: Ein Yoga-Kurs ist es nicht.

Aber es ist eben auch keine zufällige Zusammenkunft. Sie hat mit der Corona-Krise zu tun und mit den Maßnahmen der Regierenden, die derzeit in einigen Teilen der Bevölkerung für Unmut sorgen. „Wir sind für das Grundgesetz“, sagt Mitorganisator Michael Wagner vielsagend. Als Vorbild für die ungewöhnliche Demonstration, die keine sein will, bezeichnet er die „Ignorance Meditation“, die mittlerweile zum vierten Mal in Kirchheim stattfindet. Diese definiert sich als Meditation für ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung und darf wohl als Unmutsäußerung gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie verstanden werden. Auf Plakate habe man bewusst verzichtet, betont Wagner. Man wolle nicht „gegen“ irgend etwas sein, sondern trete für Meinungsfreiheit ein. Auch für die Äußerungen von Verschwörungstheorien? „Was sind Verschwörungstheorien?“, fragt er zurück. Nach grundlegender Ablehnung klingt das nicht. Dass man sich an die Vorgaben hält, zeigen Details: Eine Flasche mit Desinfektionsmittel steht bereit, Kreidekreuze auf dem Boden zeigen die Meditationsplätze an, damit alle den vorgeschriebenen Abstand einhalten.

Am Rande hält eine Frau doch einige Schilder dabei mit „Impf-freiheit“ oder „Meine Würde als Mensch ist unantastbar“. Äußern will sie sich dazu nicht. Andere Teilnehmer sind dagegen offen für Gespräche, vermeiden aber jegliche Positionierung. „Wir sitzen hier auch, um zu zeigen: es gibt nicht nur Rechts und Links, sondern auch ganz viel dazwischen“, sagt Johanna Walle. „Mir geht es um unsere Zukunft, um Freiheit und um den Frieden“, fügt sie hinzu. Sie will aber Fragen stellen dürfen: „Haben wir den Punkt schon erreicht, wo der Virus nicht mehr gefährlicher ist als die Folgen der Maßnahmen? Kann das überhaupt jemand einschätzen? Und dabei denke ich in erster Linie an die Menschen und die Folgen für die Psyche“, fügt sie hinzu.

Ähnlich geht es Karin Lindner, die auch an der Meditation teilgenommen hat, obwohl sie mit den bisherigen Maßnahmen weitestgehend einverstanden war, angesichts der Neuartigkeit des Situation. „Auch kann ich in gewissem Maß nachvollziehen, dass wir lieber noch ein wenig vorsichtig sind, als zu früh zum gewohnten Leben zurückzukehren“, fügt sie hinzu. Aber sie wünscht sich mehr Klarheit: „Mut zum Nicht-Wissen, Mut zur Begrenztheit. Vertrauen in das Leben. Ich wünsche mir klar definierte Zahlen, Daten, Fakten als Informationen und dort, wo diese Klarheit nicht möglich ist, dies auch transparent gemacht wird.“

Am Rande verteilt Kay Claussen Flyer der Partei „Neue Mitte“, deren Gründer auch schon mit Verschwörungstheorien in Verbindung gebracht wurde. Das Gesundheitswesen sei unfrei, meint er. Man müsse mehr an die Eigenverantwortung der Menschen appellieren, bei anfälligen Personen gezielter vorbeugen. „Was passiert, ist unverhältnismäßig“, befindet er. Und wie andere Meinungen abgewertet werden, „erschüttere“ ihn.

Nach einer Stunde ist alles vorbei: So still wie er begonnen hat, endet der Protest auch. Der Tag ist sonnig, durch die Marktstraße schlendern die Menschen, viele haben ein Eis auf der Hand. Und auf Kirchheims Marktplatz kehren die Gespräche wieder zurück.

Ohne Worte, ohne Sinn?

Thomas Zapp
Thomas Zapp

Kommentar: Dieser Protest, oder Mahnwache, wie mich eine Teilnehmerin belehrt, macht wirklich sprachlos. Das gilt nicht nur für den Betrachter, sondern auch für die Mitwirkenden, die spürbar nach Worten ringen, wenn man sie nach ihren Motiven fragt. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, sitzt anscheinend vielen im Nacken. Man will bloß nicht mit den „Anti-Corona-Demos“ auf dem Stuttgarter Wasen in Verbindung gebracht werden und schon gar nicht mit irgendwelchen Verschwörungstheoretikern. Der legendäre Loriot-Sketch, bei dem in einer Politikerrunde der Vertreter der FDP auf jede Frage der zunehmend entnervten Moderatorin antwortet „Liberal heißt im liberalen Sinne liberal“, bevor er etwas Falsches sagt, äußert sich hier im mehr oder weniger beredten Schweigen.

Man sollte aber davon Abstand nehmen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der „Ignorance-Meditation“ als Spinner abzutun, auch wenn die Meditationen von einigen Vertretern der Verschwörungsfraktion befürwortet werden. Denn vor Ort in Kirchheim zeigt die Mehrheit im Gespräch differenzierte Gedanken. Was zeigt also diese schweigende Form des Protests? Dass es um die allgemeine Diskussionskultur momentan nicht zum Besten steht. Zu schnell werden, auch von „den Medien“, Stempel verteilt, wenn jemand Zweifel äußert, zum Beispiel an dem Sinn bestimmter Maßnahmen.

„Auch mal andere Experten“ als die üblichen Verdächtigen zu hören, wünscht sich eine Teilnehmerin der Mahnwache, um sich besser ein eigenes Bild machen zu können. Daran liegt nichts Verwerfliches. Die „öffentliche“ Meinung oder diejenigen, die sich als deren Vertreter verstehen, agieren in den Augen vieler zu rigoros, haben zu schnell ein Urteil zur Hand und scheuen auch Diffamierungen nicht. Ähnliches konnte man auch bei der Klima-Dikussion erleben. „Ich schaue eigentlich gar kein Fernsehen“, sagt einer und meint „die traditionellen Medien“. Sind die Quellen im Internet denn verlässlich? Auch das wüsste sie nicht, gibt eine andere zu.

Es herrscht Unsicherheit, und dieser stumme Protest zeigt diese überdeutlich. Deshalb ist er alles andere als sinnlos, sondern ein Zeichen an alle, die öffentliche Diskussion offener zu gestalten. Andere Meinungen oder Zweifel nicht gleich ins Lächerliche ziehen. Das müssen „wir Medien“ uns auch auf die Fahnen schreiben. Zwischen Fragen nach dem Sinn von Maßnahmen und dem Glauben an Echsenmenschen und Kontrolle durch eingeimpfte Chips gibt es noch reichlich Platz für sinnvolle Diskussionen.