Kirchheim

Turnen mit Goethe

Theater Die Badische Landesbühne hat den „Urfaust“ in der Kirchheimer Stadthalle aufgeführt – mit schriller Musik, jugendlichen Outfits und ganz viel Bewegung auf der Bühne. Von Ulrich Staehle

Nächstes Jahr wird Goethes „Faust“ mal wieder Sternchenthema im Abi­tur. Die Theater sind wach genug, ihn in den Spielplan aufzunehmen, um auch junges Publikum anzulocken - so auch die Badische Landesbühne. Deren Kinder- und Jugendtheater hat sich Goethes angenommen. Ihr Leiter Joerg Bitterich wählte den „Urfaust“ aus und führte Regie. Mit dieser Produktion gastierte die Bruchsaler Truppe nun in der Kirchheimer Stadthalle.

Wie kann man Goethes „Faust“ Jugendlichen schmackhaft machen? Ist „Faust I“ zu langatmig und zu sperrig? Da liegt der vom Sturm und Drang geprägte „Urfaust“ der Jugend wohl näher. Allerdings ist der Text von Goethe nie veröffentlicht worden und nur in einer spät entdeckten Abschrift erhalten. Der bruchstückhafte Text muss ergänzt werden.

Von Anfang an ist bei der Inszenierung spürbar, dass sozusagen als „Geschmacksverstärker“ Zutaten der heutigen Jugendkultur Goethes Werk jungen Leuten schmackhaft machen sollen: schrille Musik, die dem Vernehmen nach auf einen legendären Begründer des Blues zurückgeht, der dafür seine Seele an den Teufel verkauft haben soll. Verständlich ist, dass Mephisto ein grünes Glitzerjäckchen und keinen altmodischen Schmuck besorgt, um Gretchen zu verführen: Outfit ist heute schließlich von großer Bedeutung. In die Zeit passen auch Passagen in englischer Sprache, deren Ursprung und Sinn allerdings geheimnisvoll bleiben. Auch die Einführung vor der Aufführung, hastig vorgelesen, bot keine befriedigende Erklärung, sondern viel zu viel literarische Allgemeinplätze.

Als Vorspiel zitieren die Bruchsaler aus Goethes Hymne „Prometheus“, die aber mit ihrer Anmaßung als Schöpfergott eher zum zweiten, noch nicht vorhandenen Teil des „Faust“ einen Bezug hat. Zitiert wird es vom fünfköpfigen Ensemble, gelagert auf einer Ansammlung von Kleidern, die den Bühnenboden bedeckt. Kleider spielen bei der Inszenierung eine entscheidende Rolle. Die Akteure ziehen sich ständig um, ebenso wie sie laufend ihre Identitäten wechseln. Mit den herumliegenden Kleidern veranstalten sie eine Materialschlacht, schichten sie um, turnen darauf herum oder wälzen sich darin. Es herrscht Dauerbewegung wie in einer Turnstunde: Für Entertainment ist gesorgt. Die Darstellerin des Mephisto zeigt sich besonders bewegungsbegabt.

Damit in der Gelehrtentragödie Fausts Monologe nicht zu lang werden, wird sein Text auf weitere vier „Fausts“ aufgeteilt, die durch die gleiche Kostümierung, ein großes rotes Tuch, kenntlich gemacht sind.

Mit dem Auftauchen von Margarete kommt die Inszenierung in ruhigere, konventionellere Bahnen. Die Schauspielerin kann dadurch ihrer Figur eine gewisse emotionale Tiefe geben, während die anderen Rollen flächige Figuren bleiben. Eingefügt aus der späteren Fassung ist die Valentinszene, in der Margarete von ihrem Bruder wegen ihres unehelichen Kindes als Hure beschimpft und verflucht wird. Die Bruchsaler helfen nach, wenn es um die Empörung über diesen unmenschlichen moralischen Rigorismus geht. Gretchen darf einen Wutanfall bekommen und ihn einen machohaften „Arsch“ nennen.

Auch der Schluss wird geändert. Nachdem Mephisto Margarete abgeführt hat, spricht Faust noch ein rätselhaftes Schlusswort.

Es ist erstaunlich, dass das Erwachsenenpublikum in Kirchheim in seiner Mehrheit den „Urfaust“ mit diesen Zutaten der Inszenierung doch genießbar fand. Dazu gehörten auch ausgefallene Regie-Ideen: Mephisto betreibt bei Frau Marthe Pediküre, und Faust schaut bei dem Schlüsselsatz seiner Sinnsuche „Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“ einem Mitspieler wie ein Zahnarzt in den Mund - unsäglich. Trotzdem oder gerade deshalb gab es von den Zuschauern mehr als konventionellen Beifall.