Kirchheim

Verängstigt von der Welt, fasziniert vom Klavier

Literatur Statt dem Klassiker gab es etwas Modernes: Das Landestheater Dinkelsbühl zeigte in der Kirchheimer Stadthalle Alessandro Bariccos „Novecento“. Von Ulrich Staehle

Symbolbild

Vorgesehen war im Abo nichts weniger als Goethes „Faust“. Der Klassiker musste abgesagt werden, stattdessen gab es etwas ganz Modernes: „Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten“. Vorgesehen war eine Einführung, die bei einem modernen Stück besonders angebracht ist. Die Einführung musste wegen Erkrankung des Dramaturgen leider ausfallen.

Der Dramaturg hätte sicherlich über den Autor gesprochen: Alessandro Baricco, 1958 geboren, ist ein italienischer Autor, der in seinem Heimatland sehr populär ist, weil er auch als Fernsehmoderator von Musiksendungen tätig ist. Mit der Erzählung „Seta“ gelang ihm ein Welterfolg. „Novecento“ hat er 1994 geschrieben. Es ist eine Erzählung, süffig zu lesen. Sie wird aber immer wieder durch Regiebemerkungen unterbrochen, denn sie ist auch ein Theatertext, der gerne auf den Bühnen gespielt und auch verfilmt wurde. Die Geschichte von Novecento wird erzählt vom Trompeter Tim Tooney, einem ehemaligen Freund von Novecento.

Somit sind wir mitten in der Handlung: Auf dem Schiff „Virginian“ mit seiner sonderbaren Mannschaft, das Auswanderer von der alten in die neue Welt bringt, wird auf dem Flügel in der ersten Klasse ein Baby in einem Karton für Zitronen gefunden. Ein Matrose kümmert sich speziell um diesen neuen Passagier und nennt ihn „Novecento“, da er im Jahr 1900 geboren wurde.

Noch nie an Land gewesen

Das Kind wächst auf dem Schiff auf und beweist sehr bald, dass es erstaunlich gut Klavier spielen kann. Novecentos Ruf eines Könners, vor allem auf dem Gebiet des aufkommenden Jazz, dringt in die Welt hinaus und veranlasst einen berühmten Pianisten, den offiziellen Begründer des Jazz, zu einem musikalischen Wettstreit auf dem Schiff, in dem er dem intuitiv spielenden Novecento unterliegt. Novecento macht später einen Versuch, an Land zu gehen, gibt ihn aber wieder auf. Sein Freund Tim Tooney, der Erzähler, mit dem er sechs Jahre gemeinsam musizierte, nimmt mit seiner Trompete 1933 Abschied vom Schiff .

Nach dem Krieg erfährt Tim, dass die Virginian wegen Kriegsschäden durch eine Ladung Dynamit auf hoher See entsorgt werden soll. Er findet das Schiff und Novecento als letzten Passagier im Maschinenraum. Novecento möchte nicht von Bord gehen, sondern auf dem Schiff sterben. In der letzten Szene befindet sich Novecento im Jenseits. Er ist bereit, auch mit einer rechten Ersatzhand, also mit zwei rechten Händen zu spielen, nachdem ihm die linke durch die Explosion abgerissen worden ist.

Klar, eine Inszenierung muss auch ohne Einführung und ohne Programmheft für sich sprechen. Auf der Bühne der Dinkelsbühler Aufführung ist ein Teil einer Schiffswand zu sehen, in die ein großes Bullauge eingelassen ist. Dieses Bullauge ist das Tor zur Welt, es dient als Projektionswand, auf der, den Text begleitend, Ausschnitte aus der Welt außerhalb des Schiffes gezeigt werden, etwa Menschenansammlungen oder Stadtlandschaften. Dem gleichen Zweck dienen akustische Einspielungen.

Er setzt eine Maske auf

Doch Mittel- und Angelpunkt ist natürlich der erzählende Schauspieler, der beim Rollenwechsel ein Kleidungsstück auf der Bühne wechselt. Vor allem aber setzt er eine Maske auf, wenn er in die Rolle des Novecento schlüpft. Man hätte den Dramaturgen gerne gefragt, warum diese weiße Totenmaske ein chinesisches Aussehen hat und warum die so wichtigen Sätze des Novecento in schwer verständlicher Fistelstimme gesprochen werden. Denn das ist doch dem Musikwissenschaftler und Autor Baricco wichtig: Novecento muss nicht in die Welt gehen. Er spürt die ganze Welt, angeregt durch die Gäste an Bord. Und er bleibt an Bord, weil er Angst hat, sich in der Welt orientierungslos zu verlieren. Die achtundachtzig Tasten auf dem Klavier, die kann er beherrschen. Die Fantasie ist wichtiger als die Realität. Man könnte Baricco einen modernen Romantiker nennen.

Trotz aller technischen Hilfen lag die ganze Last der Inszenierung auf den Schultern des Schauspielers Bernd Berleb. Mit hingebungsvollem körperlichem Einsatz schaffte er es, den von Schwierigkeiten gepflasterten Theaterabend zu einem befriedigenden Ergebnis zu bringen. Für seine Leistung wurde er bei den Wasserburger Theatertagen mit dem Darstellerpreis belohnt und in Kirchheim mit nachdrücklichem Applaus.