Kirchheim

Vom Chaos zum Kosmos

Kulturabend Christina Brudereck und Ben Seipel gastierten mit „Kopfkino“ in der Naberner Zehntscheuer.

Kirchheim. Am Schluss verteilt Christina Brudereck Flaumfedern ans Publikum. Das weist auf den Künstlernamen des Duos hin: „2 Flügel“. Flügel sind aus Federn gemacht, und mit Flügeln hebt man sich vom Boden ab. Die zwei Flügel der beiden Künstler bestehen allerdings aus einem Konzertflügel, an dem Ben Seipel sitzt, und aus der Sprecherin Christina Brudereck.

Die Theologin ist beflügelt durch ihre schriftstellerische Tätigkeit. Voller Poesie verarbeitet sie Erlebnisse, die sie auf ihren Reisen um die Welt gemacht hat. Ihr neuester Roman „Café Mandelplatz“ spielt in der Zeit der Apartheid in Südafrika. Und sie ist Bühnenkünstlerin. Zusammen mit ihrem Ehemann Ben Seipel war sie Gast in der Naberner Zehntscheuer. Angekündigt war das Thema „Kopfkino“, ein Rückblick auf Filmerlebnisse, die zugleich auch einen Rückblick auf die Zeitgeschichte bieten, inklusive thematischer Abschweifungen.

Die beiden gehen von der ersten bis zur letzten Minute mit einer Konzentration ans Werk, als würden sie das Programm zum ersten Mal spielen. Ein Blick auf ihr kompaktes Tourenprogramm verrät anderes. Sie ist nicht nur Sprecherin, die notwendige Zwischentexte spricht, sondern schwingt sich auf zu poetischen Höhenflügen, vor allem bei Gedichten, die sie selbst verfasst hat. Ihre artistische Artikulationsfähigkeit beweist sie, indem sie die Namen von fünfunddreißig Reformatorinnen in fünfunddreißig Sekunden aufzählt.

Wenn Ben Seipel Klavier spielt, spielen nicht nur zwei Hände, sondern ein ganzer Körper einschließlich der Mimik. Der Dozent an der Hochschule für Musik in Köln begnügt sich bei seinem Spiel in den verschiedensten Stilen nicht nur mit den Tasten des Flügels, sondern wühlt auch in den Saiten des aufgeklappten Flügels und bedient nebenher auch noch eine Melodika oder eine Mundharmonika. Er begleitet den Sprechgesang seiner Partnerin, legt Soli hin wie beim Medley von Filmmelodien der 80er-Jahre. Besondere Höhepunkte sind durch seine ausdrucksvolle Stimme Gesangsnummern in verschiedenen Sprachen.

So schwingen sich die beiden im ersten Teil von Film zu Film in raschen, sozusagen akustischen Filmschnitten. Das Publikum seufzt immer wieder in wohliger Erinnerung auf. Nach der Pause verschiebt sich der Schwerpunkt in eine Richtung, die durch die Pastorentochter und Theologin Brudereck geprägt ist: Wie findet der Mensch vom „Chaos zum Kosmos“? Er braucht eine Heimat. Außer einer geografischen Heimat braucht er eine geistige. Er kann sie im Christentum finden. An die Reformation wird erinnert, und „Ein feste Burg“ ertönt in machtvoller Variation. Ganz aktuell wird die christliche Botschaft auf das Schicksal der Bootsflüchtlinge bezogen mit dem Lied „Es kommt ein Schiff geladen“.

Es geht also um die Standortbestimmung im Leben. Das bringt natürlich außer der religiösen eine politische Komponente ins Spiel. Bruderecks Position ist klar: Sie wünscht sich einen von Vertrauen und Liebe getragenen Umgang der Menschen untereinander und ein friedliches Deutschland in einem vereinigten Europa. Und Hilfe von oben, verbildlicht in einem Rettungsengel mit zwei Flügeln. Diese Botschaft wird aber nicht moralisierend abgehandelt, sondern voller Witz und Selbstironie auf höchstem künstlerischen Niveau.

Gastgeber Eckard Brosig hat Recht, wenn er von einem Abend „voller Überraschungen“ sprach. Überrascht äußerte sich auch die Norddeutsche Christina Brudereck - über die Aufgeschlossenheit sowie über die Begeisterungsfähigkeit des schwäbischen Publikums.Ulrich Staehle