Kirchheim

Von einem bürgerlichen Außenseiter

Vortrag Auf Einladung des Literaturbeirats spricht Ulrich Kittstein über Gottfried Keller und dessen Zerrissenheit zwischen Bürger und politischem Individuum. Von Ulrich Staehle

Ulrich Kittstein zog die Zuhörer mit seinen unterhaltsamen Ausführungen zu Gottfried Kellers Leben und seinen literarischen Werk
Ulrich Kittstein zog die Zuhörer mit seinen unterhaltsamen Ausführungen zu Gottfried Kellers Leben und seinen literarischen Werken in seinen Bann. Foto: Marcel Heckel

Er war schon vor zwei Jahren da, um seine Mörikebiografie vorzustellen. Nun konnte Barbara Haiart vom Literaturbeirat in der Kirchheimer Stadtbücherei den bewährten Referenten zum Thema Gottfried Keller begrüßen.

Das war sehr entgegenkommend: Der junge Professor aus Mannheim, der 2019 eine umfangreiche wissenschaftliche Biografie über Gottfried Keller vorgelegt hat, holte sein Publikum dort ab, wo er es richtig vermutete. Wenn von Keller heute noch etwas bekannt ist, dann ist es die Schul­lektüre „Kleider machen Leute“. Man erinnert sich: Da reist der verarmte Schneider Strapinski von dem leichtlebigen Seldwyla nach Goldach. Die geschäftstüchtigen Goldacher halten ihn aufgrund seines Benehmens und seiner Kleidung für einen polnischen Grafen. Schließlich nimmt er die Rolle an. Nettchen, immerhin Tochter des Amtsrats, verliebt sich in ihn. Am Tag der Verlobung wird er entlarvt und er scheint am Boden zerstört. Doch Nettchen hält zu ihm und sie eröffnen eine erfolgreiche Schneiderei. Er wird „rund“ und „stattlich“, hat „zehn bis zwölf Kinder“ und ist schließlich ein „geschäftserfahrener“ und „angesehener“ Bürger.

Also eine Lebensverwirklichung ganz im Sinne Gottfried Kellers, den die Frage bewegte, wie man zu einem bürgerlichen Leben kommt. Das führt zur Reserviertheit des heutigen Lesers gegenüber dem altväterlichen, provinziellen Autor. ­Kittstein rät, genauer hinzusehen. Von ­Strapinski als Fantast erzählt ­Keller ausführlich, von dessen Bürgerexistenz am Schluss nur in ein paar summarischen Sätzen. „Der Poet scheint dem Didaktiker ein Schnippchen zu schlagen“, vermutet der Referent. Die Erzählung sei mit ihrem Schluss „uneindeutig“. Wie bei einem Kippbild gebe es eine Wertung je nach Einstellung des Lesers.

Ein Leben im Zwiespalt

Diese Zwiespältigkeit, so der Referent, ziehe sich durch das ganze Werk, wie bei der Erzählung ­„Pankraz, der Schmoller“, und habe auch biografische ­Gründe. Gottfried Keller, 1819 in Zürich geboren, verlor im Alter von fünf Jahren seinen Vater und wurde, was einer bürgerlichen Sozialisation abträglich ist, allein von der Mutter erzogen. Bis zu seinem 42. Lebensjahr war sein Leben ziellos. Er versuchte sich als Maler in München, hörte in Heidelberg den Philosophen Feuerbach, lebte jahrelang in Berlin und machte Schreibversuche mit geringem Echo. Sein Leben bestritt er auf Pump, für den Mutter und Schwester geradestanden.

Das lief so, bis er überraschend 1861 die gut bezahlte Stelle des Staatsschreibers des Kantons Zürich bekommt, die er 15 Jahre lang zur allgemeinen Zufriedenheit ausübt und die ihn, wie er selbst feststellt, zu den bürgerlichen Tugenden wie Pflicht und Arbeit erzogen hat. Danach folgt die ausgesprochen fruchtbare und erfolgreiche Phase als Schriftsteller.

Wie komme ich zu einem bürgerlichen Leben? Diese Grundfrage durchzieht sein ganzes Werk. Der Wertekatalog der Bürgerlichkeit ist aber bei Keller um eine Komponente erweitert: Der Bürger soll auch ein politisches Individuum sein. Keller vertritt, angeregt durch die Französische Revolution, einen liberalen Standpunkt. Er ist für eine direkte Demokratie und begrüßt 1848, dass die Schweiz ein Bundesstaat wurde.

Doch auch politisch erweist sich Keller als „bürgerlicher Außenseiter“, wie ihn Kittstein im Untertitel der Biografie nennt. In „Martin Salander“, seinem zweiten, sechs Jahre vor seinem Tod erschienenen, relativ unbekannten Roman, zeichnet Keller ein düs­teres Bild eines Bürgertums, das seinen Individualismus hemmungslos auslebt. Es führt zu zügellosem Kapitalismus und zerstört jede Menschlichkeit. Sogar die heute so aktuelle Umweltzerstörung ist schon ein Thema.

Grund genug, Kittstein zu glauben, dass Keller kein harmloser Unterhaltungsschriftsteller ist, sondern einer, der auf unterhaltsame Weise die Kompliziertheit des Lebens darstellt. Er selbst scheint sich davon etwas abgeschaut zu haben. Seine Biografie über Keller ist trotz aller Wissenschaftlichkeit für jeden lesbar und sein Vortrag darüber klar und unterhaltsam.