Kirchheim

Von Wohnzimmer zu Wohnzimmer

Neue Medien Wegen der Corona-Pandemie bleiben überall die Kirchen und Gemeindezentren leer. Auch die Evangelisch Freikirchliche Gemeinde Kirchheim bietet deshalb jetzt Podcast-Gottesdienste an. Von Iris Häfner

Paul Kohnle (links) und Günter Öhrlich nehmen im Gemeindezentrum die Podcast-Gottesdienste auf. Fotos: Carsten Riedl
Paul Kohnle (links) und Günter Öhrlich nehmen im Gemeindezentrum die Podcast-Gottesdienste auf. Fotos: Carsten Riedl
Martina Rieker in ihrem trostlos leeren Cafe Hope.
Martina Rieker in ihrem trostlos leeren Cafe Hope.

Das „Gemeindewohnzimmer“ hineinnehmen ins Wohnzimmer der Leute will Günter Öhrlich, Pastor der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde Kirchheim. Was schon lange als Idee im Raum stand, ist nun in Windeseile wegen der Corona-Krise und den damit einhergehenden verwaisten Gotteshäusern innerhalb kurzer Zeit mit tatkräftiger Unterstützung junger engagierter Kräfte in die Tat umgesetzt worden: Podcast-Gottesdienste.

Alte, gestapelte Apfelkisten sind die bescheidene Deko, jede Einzelne ist mit einer Elektroleuchte bestückt - eine dient als Tisch. Zwei Stühle stehen auf einem Teppich, eine üppige Palme dient als grüner Hintergrund für das Lobpreis-Duo, das schlichte Holzkreuz schmückt eine Dornenkrone. Das bekommen all diejenigen zu sehen, die die beiden Pastoren Günter Öhrlich und Paul Kohnle zur gewohnten sonntäglichen Gottesdienstzeit hören und sehen wollen. Live ist es nicht. „Wir nehmen alles am Freitag oder Samstag auf“, verrät Günter Öhrlich. Zwei Kameras sorgen für zwei Blickwinkel, der Ton wird extra aufgenommen. „Für uns ist das total ungewohnt. Wir predigen in den leeren Raum hinein“, sagt Günter Öhrlich. Ihm fehlt die Interaktion mit der Gemeinde. In der Regel sind rund 350 Gläubige im Saal. „Es ist ein Kaltstart. Wenn die Techniker sagen ,Kamera läuft‘ und ,Ton läuft‘, klatschen wir in die Hände, zählen 21,22 - und dann geht‘s los“, erzählt der Pastor. In die kalte Linse zu predigen, sei etwas ganz anderes als zur Gemeinde. Es kommt keine Regung, keine Reaktion zurück. Anders Paul Kohnle: „Ich bin ein stückweit im Tunnel, blende rechts und links aus. Wenn ich predige bin ich fokussiert und konzentriert“, so der 27-Jährige.

„Wie alle anderen Kirchen auch sind wir von der Entwicklung überrollt worden“, sagt Günter Öhrlich. Er kann trotz allem den Coronazeiten etwas Positives abgewinnen. „In jeder Krise steckt eine Chance. Wir haben das innerhalb von einer Woche mit den Podcast-Gottesdiensten auf die Beine gestellt. So können wir die Hoffnungsbotschaft in die Teckregion reinbringen. Neben aller Einschränkung ist die Reichweite eine enorme Chance“, freut er sich. Der erste Gottesdienst schaffte es auf rund 1500 Klicks, mittlerweile pendelt es sich auf 800 bis 900 ein. Dazu kommt, dass oftmals die komplette Familie vor dem Bildschirm sitzt.

Aber nicht alle Gemeindemitglieder haben Internetanschluss, insbesondere die Senioren. Doch auch dafür gibt es unkomplizierte, pragmatische Lösungen: Der 92-jährige Theo hört die Predigt via Telefon mit. Freunde stellen ihres einfach vor den Lautsprecher, sodass der Senior die frohe Botschaft des Pastors hören kann.

Stolz ist Günter Öhrlich auf das junge Technikteam, ohne dessen Hilfe das Projekt nicht zu stemmen gewesen wäre. Eine Woche hat es dazu gebraucht. Erik Hartmann und Timon Öhrlich sind hier die entscheidenden Köpfe. Sie entstammen dem Kreativteam, das sich seit rund einem Jahr mit Fotografieren, Filmen und Schneiden beschäftigt. „Ohne die zwei wüsste ich nicht, wie das gehen soll - es funktioniert, weil sie nicht in die Schule dürfen“, gibt der Pastor unumwunden zu. Die beiden sind hochmotiviert. „Die bleiben so lange wach, bis alles stimmt. Notfalls skypen sie bis nachts um drei“, sagt Günter Öhrlich. Sie „fitzeln“ die Ton- und Filmsequenzen zusammen, blenden die Liedtexte zu den Lobpreisliedern ein.

„Für uns ist das alles Neuland. Wie lange das noch so geht, ist offen“, erklärt Günther Öhrlich. Er und sein Kollege vermissen ihre Gemeinde. „Ein wichtiges Standbein ist unser Stehcafé, das nach dem Gottesdienst stattfindet. Da geschieht viel in Bezug auf das Gemeindeleben und die Gemeinschaft - insbesondere für die, die allein leben“, ist sich Günter Öhrlich bewusst. Dazu zählen auch rund 40 Migranten. „Für viele bricht zur Zeit enorm was weg. Die Begegnung mit anderen Menschen ist ein hoher Wert“, sagt der Pastor.

Das Cafe Hope fehlt den Menschen

Martina Rieker in ihrem trostlos leeren Cafe Hope.
Martina Rieker in ihrem trostlos leeren Cafe Hope.

Alles andere als glücklich ist Martina Rieker, seit drei Jahren Teamleiterin Ehrenamt und für das Cafe Hope zuständig, das unter dem Dach der Evangelisch Freikirchlichen Gemeinde in Kirchheim im Steingau-Zentrum stattfindet. „Aus hundert Sozialkontakten an einem Tag ist auf einen Schlag einer geworden: mein Mann. Das ist für mich richtig hart und immer noch schwierig“, sagt sie und fügt hinzu: „Die Welt steht still - und ich bin mittendrin.“

Es ist ihr anzumerken, wie ihr die Menschen fehlen. „Das Cafe Hope ist ein Ort, wo leckeres Essen auch glücklich macht“, sagt Martina Rieker. Gäste und Mitarbeiter seien dankbar für ein gutes Wort und die Mahlzeit. „Das ist ein Gesamtpaket, das mir richtig Freude macht.“ Damit ist jetzt aber erstmal für ungewisse Zeit Schluss.

Von Dienstag bis Donnerstag jeweils von 11.45 bis 13.15 Uhr hat das Cafe in der Steingaustraße 28 mit seinen rund 70 Plätzen geöffnet. 16 bis 18 ehrenamtliche Mitarbeiter pro Tag sorgen neben Martina Rieker und einer Köchin jeden Tag für den reibungslosen Ablauf. Insgesamt sind es rund 40 Mitstreiter. Kommen kann jeder, mithelfen ebenfalls. Es sind Alleinstehende, Migranten, Senioren. „Unsere Mitarbeiter wollen was Sinnvolles tun. Sie werden wie die Gäste wahrgenommen und wertgeschätzt. Wir sind die Cafe-Hope-Familie, das ist ein Gemeinschaftsgefühl“, beschreibt Martina Rieker. Doch das ist im Zuge der Coronakrise komplett weggebrochen. Über Whats-App und Telefon hält sie Kontakt, ab und zu gibt es eine Video-Botschaft. „Da ist auch mal was Lustiges dabei, damit die Leute was zu lachen haben“, sagt sie.

Zu Beginn der Krise war es für zahlreiche Menschen ein regelrechter Einbruch. „Sie haben kein Gegenüber mehr. Manche waren komplett auf dem Rückzug, haben überreagiert und sind 14 Tage lang gar nicht mehr aus ihrem Zimmer raus“, erzählt Martina Rieker. Ihr guter Zuspruch hat schließlich gewirkt. „Man muss jeden mitnehmen, wo er gerade steckt, Jeder braucht etwas anderes“, erzählt sie. Eine häkelt jetzt Topflappen, andere schicken Videos von sich beim Sport zuhause - mit Wasserflaschen als Hanteln. „Wegrennen und wegkämpfen geht bei Corona nicht. Deshalb muss ich das jetzt aushalten“, zitiert Martina Rieker einen ihrer Schützlinge.

Auch einige Migranten sind darunter und die Teamleiterin hat ungeahnte Fähigkeiten bei sich entdeckt. „Ich habe mich wieder mit Mathe auseinandergesetzt und weiß wieder, wie man Zylinder berechnet oder eine Inhaltsangabe schreibt“, erzählt sie lachend. Dann berichtet sie von einem weiteren Telefonat: „Mir fehlen einfach deine Umarmungen, bekam ich zu hören - viele haben niemanden.“ ih