Coronavirus

Warten, warten und nochmal warten

Corona Der 21-jährige Student Florian Goedeckemeyer hat seinen Auslandsaufenthalt in Mexiko wegen der Pandemie vorzeitig abgebrochen. Die letzten Tage wurden zur Zitterpartie. Von Anke Kirsammer

Reisen und Ausflüge in die nähere Umgebung wie auf den Cerro de la Silla, das Wahrzeichen der Metropolregion Monterrey, gehörten
Reisen und Ausflüge in die nähere Umgebung wie auf den Cerro de la Silla, das Wahrzeichen der Metropolregion Monterrey, gehörten zu Florian Goedeckemeyers Auslandssemestern in Mexiko.  Foto: pr

Warten - mehr kann Florian Goedeckemeyer in den letzten Tagen seines Mexiko-Aufenthalts nicht tun. Längst hat sich der Oberlenninger bei der Deutschen Botschaft für das Rückholprogramm der Bundesregierung gemeldet, persönliche Daten und den Wunschflughafen angegeben. Erst 24 Stunden vor dem Abflug würde er benachrichtigt, heißt es. Ein Tag nach dem anderen verstreicht. Ob er für den Rückflug nach Cancún oder Mexiko-Stadt reisen muss, ist völlig unklar und ebenfalls noch zu organisieren. Er wohnt in Monterrey - dreieinhalb Stunden von beiden Flughäfen entfernt. In den acht Monaten, seitdem der angehende Wirtschaftsingenieur sein Auslandsstudium angetreten hatte, hat sich eine Menge angesammelt. Der Koffer ist nicht fertig gepackt, der Hausmeister im Home-Office. Wie also das Zimmer übergeben, wenn es schnell gehen muss?

Lange hatte der 21-Jährige gar nichts davon mitbekommen, dass das Coronavirus auch in Mexiko grassiert. Die offiziellen Fallzahlen sind gering. Doch Mitte März schließt wie aus heiterem Himmel die Uni, Seminare werden nach einer Ferienwoche online abgehalten. Noch macht sich Florian Goedeckemeyer da keine großen Gedanken. „Es ist schön hier, 38 Grad warm, ich habe am Wohnheim einen Pool und leckeres Essen“, denkt er. Den schon lange geplanten Kurztrip nach La Paz, was übersetzt so viel heißt wie Frieden, nimmt er noch mit, doch die Entwicklung in Deutschland lässt ihn nach vier Tagen nach Monterrey zurückkehren. Als eine Kommilitonin beschließt, ihren Auslandsaufenthalt abzubrechen, beginnen auch Florian Goedeckemeyer und vier deutsche Mitstudenten nachzudenken. Was, wenn die Dunkelziffer an Infizierten in Mexiko viel höher ist als deren offizielle Zahl? Er fürchtet eine Ausgangssperre, macht sich Gedanken um die Versorgung und die Sicherheit. Als er loszieht, um sich mit Mitbringseln wie Tequila und Mazapan, einer typisch mexikanischen Süßigkeit, einzudecken, hat plötzlich auch das öffentliche Leben ein anderes Gesicht: Die Türen am Supermarkt sind nur einen Spalt breit geöffnet, die Griffe der Einkaufswagen werden desinfiziert, überall hängen Abstandsschilder, Obst und Backwaren, die sonst offen angeboten werden, sind verpackt. Nach Hams­terkäufen ist neben Mehl auch das Corona-Bier, das mit der Pandemie seinen Siegeszug von Mexiko um die Welt angetreten hat, nicht mehr zu bekommen. Nachdem die als nicht essentiell eingestuften Brauereien schließen mussten, hatten sich viele Kunden damit eingedeckt.

Immer wieder Telefonate und der bange Blick auf die Internetseite der Botschaft. Plötzlich werden die letzten beiden Flüge nach Frankfurt angekündigt. Wie der Student später erfährt, ein Trick, weil zuvor viele Leute nicht am Flughafen erschienen waren und die Flieger halb leer gen Deutschland abhoben. Dann kommt die erlösende Mail: „Wer tags drauf fliegen will, soll das sofort bestätigen. Das habe ich innerhalb von vier Minuten gemacht“, sagt Florian Goedeckemeyer. „Ich habe bis um 1 Uhr gepackt und alles geregelt.“

Der Flug in die Hauptstadt am frühen Morgen klappt reibungslos. In Mexiko-City aber wird die Geduld des jungen Mannes erneut auf die Probe gestellt. Eine riesige Traube von Menschen, die nach Deutschland wollen, harrt dort aus. „Viele hatten zwei Surfbretter dabei, und wir haben uns einen Kopf gemacht, ob der Koffer zu schwer ist“, sagt Florian Goedeckemeyer kopfschüttelnd. „Vor uns standen vielleicht 40 Leute. Die Schlange war so lang. Das Ende habe ich nie gesehen.“ Die Bestätigungs-Mail der Botschaft ist auf einmal nichts mehr wert. Alte, kranke Menschen und Familien bekommen einen Platz garantiert. Vorgezogen werden außerdem Urlauber, die eine Aufenthaltsgenehmigung für 30 bis 180 Tage haben. Der Studentenstatus wird Florian Goedeckemeyer und seinen Kommilitonen zum Verhängnis. Sie landen auf der Warteliste ganz unten.

Der Kauf eines Flugtickets nach Amsterdam scheint der einzige Ausweg. Schon längst ist die Abflugzeit des Fliegers nach Frankfurt überschritten, und noch immer werden Passagiere abgefertigt. Dann kommt den Studenten doch noch die erlösende Idee: Ihr Visum läuft nur bis Ende Juli und damit nicht so lang wie das mancher Urlauber. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Nach dreimaligem Fiebermessen - eine erneute Zitterpartie nach der sechsstündigen Wartezeit im Gedränge und ohne trinken - wird er schließlich durchgewinkt. Völlig ermüdet steigt er ins Flugzeug und atmet auf: „So gut habe ich auf einem Flug noch nie geschlafen.“

Eine Vorlesung läuft durch den Zeitversatz jetzt nachts von 1 bis 4 Uhr

Florian Goedeckemeyer studiert seit 2017 internationales Wirtschaftsingenieurwesen an der FH in Pforz heim. Das fünfte und sechste Semester absolviert er am Instituto Tecnológico in Monterrey. Ziel ist ein doppelter Studienabschluss.

Zwei Wochen hatte er sich nach seiner Rückkehr in Lenningen Quarantäne auferlegt. Mittlerweile ist klar, die Uni in Monterrey bleibt in diesem Semester geschlossen, die Vorlesungen werden ausschließlich online abgehalten.

Die Zeitverschiebung bringt es mit sich, dass der Student jetzt dreimal pro Woche nachts von 1 bis 4 Uhr Vorlesungen hat. „Die sind interaktiv. Wer die Kamera ausschaltet, bekommt vom Prof sofort eine Frage gestellt“, so Florian Goedeckemeyer. Eine Vorlesung beginnt um 14, eine um 17 Uhr. Die Projekt­arbeit mit überwiegend in Mexiko lebenden Kommilitonen findet am frühen Abend statt. Er schläft derzeit von 4 bis 11 Uhr. „Das ist anstrengend, aber anders geht es nicht“, sagt er. Angenehmer Nebeneffekt des siebenstündigen Zeitversatzes ist die verschobene Deadline für die Hausaufgaben. Während die Kommilitonen in Mexiko sie bereits am Freitagabend um 18 Uhr abgeben müssen, hat er bis Samstag früh um 1 Uhr Zeit.

Die Prüfungen finden in den ersten beiden Wochen im Juni ebenfalls online statt. „Wie, weiß ich nicht“, sagt Florian Goedeckemeyer. „So etwas läuft in Mexiko spontan ab.“

Am meisten vermisst er das samstägliche Tennisspielen mit einem Freund. „Danach haben wir zum Frühstück immer Tacos gegessen“, erzählt der Lenninger. „Ich habe aber vor, sie selbst zu machen.“ ank