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Was besser werden muss

Planung: Wolf-Peter Miehe fordert die Bildung einer Strukturkommission, besetzt mit Vertretern aus Sozialministerium, Kassenärztlicher Vereinigung und Landesärztekammer, die das weitere zukünftige Pandemie-Vorgehen für verschiedene Szenarien entwickelt. Zudem müsse darüber nachgedacht werden, wie sichergestellt werden kann, dass andere Erkrankungen, mit denen Patienten in der Regel beim Hausarzt vorstellig werden, im Pandemie-Fall nicht verschleppt würden. Selbst Patienten mit Herzinfarkt hätten sich teilweise nicht getraut, zum Arzt zu gehen. Beispielsweise sei denkbar, dass es Covid-freie Praxen gebe, die dann die Patienten der Schwerpunktpraxen übernehmen.

Ausrüstung: Nach wie vor ist nicht genügend Schutzausrüstung vorhanden. „Wir sind als Schwerpunktpraxis gut ausgerüstet, aber unser Vorrat reicht immer nur für eine bis zwei Wochen. Wir können unsere Vorratskammer nicht voll machen“, sagt Wolf-Peter Miehe. Das sei ein Stressfaktor. Individuelle Bestellungen seien nicht möglich, die Praxen würden von der Kassenärztlichen Vereinigung automatisch beliefert. Bei den FFP2-Masken sei am Anfang einiges Ungeeignetes auf dem Markt gewesen - gefährlich für Ärzte und Praxispersonal.

Kommunikation: „Die Pandemie hat offenbart, dass wir in der Zeit des reitenden Boten leben“, sagt Wolf-Peter Miehe. Dass es zwischen Ärzten, Kliniken, dem Gesundheitsamt und dem Robert-Koch-Institut keinen digitalen Informationsaustausch gebe, sei der Wahnsinn. „Wir mussten unsere Meldungen ans Landratsamt faxen. Das war sehr zeit- und personalintensiv“, sagt Miehe. Die Umstellung auf digitale Infrastruktur werde allerdings nicht bis Herbst zu bewerkstelligen sein. „Das sehe ich als eine mittel- bis langfristige Aufgabe.“

Wertschätzung: „Es ist ein skandalöser Missstand, wie mit dem Pflegepersonal umgegangen wird“, ärgert sich Wolf-Peter Miehe. „Wir brauchen mehr und besser bezahltes Pflegepersonal.“ Das sei eine Aufgabe, der sich die gesamte Gesellschaft stellen müsse, „denn das Geld müssen wir gemeinsam aufbringen“. Die niedergelassenen Ärzte und Fachärzte wünschten sich in der Pandemie mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit. „Auch Fachärzte leisten beispielsweise Dienst im Abstrichzentrum“, sagt Wolf-Peter Miehe. adö

„Abstrichzentrum muss bleiben“

Der Weilheimer Hausarzt Dr. Wolf-Peter Miehe ist davon überzeugt, dass die Patientenlenkung Schlimmeres verhindert hat.Foto. Mar
Der Weilheimer Hausarzt Dr. Wolf-Peter Miehe ist davon überzeugt, dass die Patientenlenkung Schlimmeres verhindert hat. Foto. Markus Brändli

Wir haben uns nie überlegt, wie wir mit so etwas umgehen.“ Dr. Wolf-Peter Miehe geht es nicht anders als den meisten. Er hat die Pandemie nicht kommen sehen, obwohl es durchaus Forscher gibt, die sie vorhergesagt haben. Als die Welt Ende Februar den Ernst der Lage erkennt, ist es fürs Überlegen längst zu spät. Jetzt muss gehandelt werden, um die Zahl der Infektionen mit dem neuartigen Sars-CoV-2-Virus einzudämmen. „Wir hatten kein System und keine Struktur“, sagt Miehe, Hausarzt in Weilheim und Vertreter der Ärzteschaft im Altkreis Nürtingen. „Das ist ein Umstand, der bis heute durchschlägt.“

Gemessen daran, wie das Virus in anderen Ländern wütete und wütet, ist Deutschland bisher jedoch glimpflich davongekommen. Vielleicht, weil die Patientenlenkung weitestgehend funktioniert hat. Der Aufruf an Menschen mit Symptomen, nicht ins Krankenhaus zu gehen, habe die Weiterverbreitung möglicherweise eingedämmt, sagt Wolf-Peter Miehe, dessen Weilheimer Praxis, die er zusammen mit Dr. Kerstin Wolff betreibt, eine der Corona-Schwerpunktpraxen ist. Sechs von sieben Corona-Patienten in Deutschland seien von ihren Hausärzten behandelt worden. „Wir konnten das Virus zu großen Teilen in den Wohnungen halten“, sagt Miehe - für ihn ein Argument für die wohnortnahe hausärztliche Versorgung. Jetzt gehe es darum, die Strukturen, die man geschaffen habe, aufrechtzuerhalten. Der Mediziner spricht sich, auch im Namen der Kreisärzteschaft, dafür aus, das System aus Abstrichzentrum und Fieberambulanz in Nürtingen und Corona-Schwerpunktpraxen in der Fläche beizubehalten. „Momentan gibt es den Trend, landesweit solche Einrichtungen aus Kostengründen zu schließen“, sagt er. Schul- und Kita-Öffnungen würden den Bedarf an Abstrichen jedoch wieder steigen lassen.

Konzept gibt Struktur vor

Der Aufruf, nicht ins Krankenhaus zu gehen, hat den Hausärzten zu Beginn der Pandemie auch einiges an Ärger eingebracht und viele Patienten mit Symptomen verunsichert. Was am Anfang ein „Riesenproblem“ gewesen sei und noch heute ab und zu passiere, seien Patienten mit Fieber und Atemwegssymptomen, die unangemeldet in der Praxis auftauchten. „Das stellt dann kurz mal alles auf den Kopf. Dann muss ich jemanden in Schutzausrüstung werfen, was für einen Abstrich eine wahnsinnige Vergeudung ist“, sagt Wolf-Peter Miehe. Menschen, die Atemwegs­probleme hätten, müssten vorher anrufen - auch wenn das Infektgeschehen gerade niedrig sei.

Das Konzept, mit dem die Corona-Schwerpunktpraxis arbeitet und das in allen Schwerpunktpraxen ähnlich umgesetzt wird, sieht vor, dass Patienten mit Verdacht auf Covid-19 nachmittags einbestellt werden, im Auto warten und dann auf dem Handy angerufen und direkt ins Sprechzimmer geleitet werden. Andere Patienten sind zu diesem Zeitpunkt nicht in der Praxis. Zur Versorgung gehört für Wolf-Peter Miehe auch, mit positiv getesteten Patienten telefonisch Kontakt zu halten, um zu hören, wie es ihnen geht und ob sie kurzatmig sind. „Bei einer Erkrankung, die man nicht kennt, ist man unsicher“, sagt Miehe. Glücklicherweise wird immer mehr darüber bekannt, wie das Virus im Körper wütet. Seit offenbar wurde, dass bei Covid-Patienten häufig Blutgerinnsel auftreten, verordnet er Heparin.

Momentan ist das Virus in großen Teilen Deutschlands eingedämmt. Wolf-Peter Miehe geht aber davon aus, dass die Zahl der Neuinfektionen im Herbst wieder steigen wird. Bis dahin gebe es viele Punkte, die dringend verbessert werden müssten, damit das Virus weiter in Schach gehalten werden kann (siehe Infokasten). Grundsätzlich plädiert der Mediziner dafür, die Pandemiebekämpfung auf eine Stufe zu stellen mit der Bekämpfung anderer Naturkatas­trophen oder Gefahren - und in größeren Zeiträumen zu denken. „Feuerwehrautos werden nicht erst im Brandfall angeschafft, so wie das mit Beatmungsgeräten geschehen ist“, sagt Wolf-Peter Miehe. Ein Deich oder anderer Hochwasserschutz werde eher für ein Jahrhunderthochwasser als für ein Jahrzehnthochwasser konzipiert. „In der medizinischen Versorgung sind wir weder für eine Jahrzehnt-Epidemie, geschweige denn für eine Jahrhundert-Epidemie vorbereitet“, sagt er.