Lokale Kultur

Willkommen in der Flüsterkneipe

Liederkranz Lindorf präsentiert gelungene musikalische Reise durch zwei Jahrhunderte

Kirchheim. Das Stichwort „Liederkranz“ mag nach Ännchen von Tharau klingen. Dieses war beim Konzert zum 150-jährigen Bestehen des

Liederkranzes Lindorf ebenfalls vertreten. Doch die jüngeren Töne überwogen deutlich. Dirigent Hans-Jakob Zimmer und die Choristen jeden Alters hatten an ihnen sichtlichen Spaß.Die Gefühle hinter den Liedern mögen dieselben sein. Unterschiedlich ist jedoch deren Art der Beschreibung – ob in Silchers „Ännchen von Tharau“ aus dem Jahr 1827 oder in „Only You „aus dem Jahr 1982. Mit letzterem Titel eröffneten die zehn jungen Damen von Young Voices die Reise durch die Zeit.

Dann wurde die Uhr ins Jahr 1827 zurückgestellt, also noch 35 Jahre weiter als bis zur Gründung des Liederkranzes, der 1862 als reiner Männerchor begann. Heute ist den zehn gestandenen Herren nur ein Reservat geblieben: Das Ännchen und den schönen Gigolo brachten sie solo zu Gehör, natürlich in Schwarz und mit Zylinder. Anschließend teilten sie die Bühne wieder mit den zahlenmäßig überlegenen Damen. Der Liederkranz vereint die Generationen, in einem Fall singen sogar eine Mutter, deren Vater und deren Tochter parallel mit.

Auch das Publikum im voll besetzten Bürgerhaus Lindorf war bunt gemischt. Für dieses gab es zwischendurch einen kleinen Einblick in die

Einmal unentschuldigt fehlen kostete zehn Pfennig

Vereinsgeschichte. Kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert zählte der Liederkranz 30 Sänger. Um auf diese wirklich regelmäßig zählen zu können, ging es streng zu: Einmal unentschuldigt fehlen kostete zehn Pfennig, dreimal unentschuldigt fehlen die Mitgliedschaft. Nach einer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg ging es erst wieder im Jahr 1920 mit dem Singen weiter.

Wie es damals in der Gesellschaft zuging, verdeutlichte eine kleine Spielszene. Die Frauen zeigten sich emanzipiert, die langen Haare wichen dem Bubikopf. Die Ladys rauchten öffentlich und tranken öffentlich Alkohol. Dieser wurde in den USA verboten, doch die Prohibition führte zur Entstehung der Flüsterkneipen. 1924 gab es davon schon über 30 000 Stück, die Mafia verdiente prächtig.

Musikalisch an diese Zeit erinnerten Chorios, der Frauenchor und Solistin Steffi Baumann mit Titeln wie „Ain’t She Sweet“, „Bei mir bist du schön“ und „Mr. Sandman“. Den Abschluss dieser Epoche markierten Chorios und Young Voices gemeinsam mit „Sing, Sing, Sing“ aus dem Jahr 1936. Der Titel bot Gelegenheit zur Vorstellung der erstklassigen Band mit Bernhard Birk am Klavier, Georg Bomhard am Bass und Sebastian Brauchle am Schlagzeug. Die drei Stuttgarter, alle studierte Musiker, blieben ansonsten dezent im Hintergrund, spielten wunderbar leicht, gelassen und unaufdringlich.

Auf die Pause mit zwei Bars im Foyer folgte der Sprung in die 1960er-Jahre, mit Klassikern wie „Girl from Ipanema“ und „California Dreamin‘”. Abbas „Super-Trouper“ markierte den Wechsel in die 1980er-Jahre, kam stimmlich überzeugend herüber und bekam großen Beifall. Das galt auch für Young Voices mit „She’s the One“ aus dem Jahr 1999. Afrikanische Klänge durften ebenfalls nicht fehlen. Der Liederkranz bewies, dass er nicht nur singen, sondern mit Schnipsen, Klatschen und Hüpfen auch als Regen- und Gewittermacher dienen kann.

Wie beendet man ein rundum rundes, abwechslungsreiches Konzert mit dem Motto „Mit uns zieht die Zeit“? Mit einem Lied über die Wirkung derselben, dem eingängigen Only Time. Ganz das Ende war es aber noch nicht, als Zugaben erklatschte sich das Publikum das „Adiemus“ des walisischen Komponisten Karl Jenkins und eine Wiederholung von Sing, Sing, Sing. Das war‘s dann aber endgültig, es folgte der flotte gemeinsame Umbau für die Jubiläumssause, bei der die Band nochmals solo zu hören war. Jubiläumssause war übrigens der ganz offizielle Begriff: Der

„Jubiläumssause“: Nicht nur musikalisch locker

Liederkranz Lindorf gab sich nicht nur musikalisch locker.

Bei manchen erwachsenen bis älteren Ensembles wirkt modernes Liedgut wie ein erzwungenes Zugeständnis, riecht das Englisch noch ziemlich Deutsch. Beim Liederkranz Lindorf war das erfrischend anders. Er wirkte von 1927 bis 2001 in jedem Liedgut gleichermaßen musikalisch zu Hause, junge Musik passt bei ihm für jedes Alter.