Kirchheim

„Wir haben keine Angst mehr“

Meinung Was ist bei Corona in der zweiten Welle anders und warum tun wir uns so schwer damit? Thomas Auerbach sieht viele Gründe und sagt: „Der beste Zeitpunkt, konsequent zu sein, war gestern. Der zweitbeste ist heute.“

Gedränge am Schlittenhang - das ist typisch für die Sorglosigkeit in der zweiten Welle. Symbolfoto: Dieter Ruoff
Gedränge am Schlittenhang - das ist typisch für die Sorglosigkeit in der zweiten Welle. Das Foto zeigt eine Szene aus dem Jahr 2019. Symbolfoto: Dieter Ruoff

Im Gegensatz zur ersten Welle im Frühjahr 2020 scheint in der zweiten einiges anders zu laufen. Trotz Lockdowns stagnieren die Zahlen bestenfalls. Wie kommt das?

Thomas Auerbach: Dafür sind viele Faktoren verantwortlich. Ein leicht nachzuvollziehender ist das Wetter. In der ersten Welle liefen wir in ein mildes Frühjahr, das Leben verlagerte sich nach draußen. Das Virus hatte es schwerer, neue Wirte zu finden. Infektionsherde waren damals überwiegend gut auszumachen, Infektionen ließen sich gut nachvollziehen und Infektionsketten unterbrechen.

 

Die Infektionsketten können schon seit längerer Zeit nicht mehr nachvollzogen werden.

Thomas Auerbach: Ja, die Kontrolle über das Infektionsgeschehen ist uns komplett entglitten. Die Corona-App hatte einen guten Start. Aber sie wurde nicht weiterentwickelt. Die Gesundheitsämter quälen sich mit Faxen, statt intelligente Technik nutzen zu können.

 

Und die Menschen?

Thomas Auerbach: Die Angst vor dem Virus hat nachgelassen. Ein ganz wesentlicher Faktor des Erfolges im Frühjahr war, dass die Menschen gehörige Angst vor dem Virus hatten. Die Bilder aus Italien ­hatten ­verstörende Wirkung, die ­meis­ten Menschen hielten schon aus Selbstschutz die Regeln ein. ­Heute, nach einem milden Sommer und dem „Deutschen Corona-Wunder“, spielt die individuelle Angst keine entscheidende Rolle mehr. Zudem verlieren die Menschen das Vertrauen in die Politik und andersrum. Beschränkungen werden zunehmend als unangenehm und unwirksam empfunden.

 

Was ist mit den AHA-Regeln?

Thomas Auerbach: Wenn man die Hygieneregeln nicht einhält, sind sie für die Katz. Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, findet dafür Beispiele am laufenden Band. In den Fabrik­hallen wird mit hohem Aufwand Schutz betrieben, spätestens in der Raucherpause aber steht man dicht beieinander und lässt die Masken fallen. Vor der Zulassungsstelle in Kirchheim habe ich jetzt erst erlebt, dass die Menschen dicht gedrängt Schlange stehen, weil man die Zulassungstermine immer noch händisch statt durchgehend online vergibt. Und statt beliebigem Mund-Nasen-Schutz ist der verpflichtende Umstieg auf wirksamere ­FFP2-Masken auch noch in weiter Ferne. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.

 

Wir haben immerhin Ausgangsregeln.

Thomas Auerbach: Aber die klare Linie von Bund und Ländern fehlt generell und damit die Orientierung. Am Mittwoch hat uns Gesundheitsminis­ter Spahn auf längere Beschränkungen eingeschworen. Er traut den aktuellen Maßnahmen also nicht zu, bis Ende Januar genügend Wirkung zu entfalten. Das heißt: Aus seiner Sicht sind die Maßnahmen schon jetzt unzureichend und werden schlicht nicht genügend befolgt. Zudem verschärfen Virusmutationen das Infektionsgeschehen.

 

Brauchen wir mehr Strafen?

Thomas Auerbach: Eine ernsthafte, spürbare Bestrafung von Fehlverhalten fehlt auf jeden Fall. Mann/Frau hat beispielsweise schnell die passende Ausrede parat, warum er/sie nach 20 Uhr noch unterwegs ist. Die Kontrolle ist ohnehin faktisch nahezu unmöglich.

 

Was ist also zu tun?

Thomas Auerbach: Meine Bestandsaufnahme gibt darauf Hinweise: klare, einfache Regeln, konsequente Bußgelder und Kontrollen und vor allem mehr Selbstdisziplin. Aber genau dies lässt sich nicht verordnen. Aufklärung kann durchaus helfen - zum Beispiel bei der Frage, wie viel Öffnung wir zulassen können.

 

Woran muss sich die Gesellschaft orientieren?

Thomas Auerbach: An der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens und der Verantwortung jedes Einzelnen. Nicht die Anzahl der Betten, sondern vor allem die Personalressourcen sind der limitierende Faktor in unseren Krankenhäusern. Diese Ressourcen sind begrenzt und können auch nur begrenzte Zeit am Limit gefahren werden. Auf den Intensivstationen werden nicht nur COVID-Patienten, sondern auch Unfallopfer, Infarkt-, Schlaganfall- oder Tumorpatienten behandelt. Noch konkurrieren diese Patienten in der Gesamtschau nicht miteinander. Aber wie lange noch? Öffnungen - in welchem Bereich auch immer - bedeuten immer eine Erhöhung der Infektionszahlen, denn Inzidenz und Kontakte sind kommunizierende Röhren. Wenn wir über eine Öffnung nachdenken, stellt sich die Frage, welchen Effekt das auf die Infektionszahlen und schwerwiegenden Erkrankungen haben wird. Keiner kann das verlässlich vorhersagen. Unterschätzt man die Gefahr, bekommt man die „Quittung“ zeitverzögert, ohne im kritischen Faktor Intensivmedizin überhaupt noch zeitnah nachsteuern zu können.

 

Das heißt: Der Lockdown muss weiter gehen als geplant, über den Januar hinaus?

Thomas Auerbach: Klar ist: Je mehr und je länger wir versuchen, uns gerade so an der Grenze der Leistungsfähigkeit zu bewegen, desto länger bleiben wir im Lockdown, desto mehr überfordern wir mit jeder weiteren Woche auch das medizinische und pflegerische Personal, das schon seit Monaten im Ausnahmemodus arbeitet. Aus meiner Sicht wäre ein massiver, aber dann auch kürzerer Lockdown das geeignetste Mittel (gewesen), um rasch Wirkung zu erzielen. Aber dafür scheint leider sehr vielen Menschen die Disziplin zu fehlen und der Politik die Bereitschaft, entsprechende Maßnahmen wirklich konsequent durchzusetzen.

 

Also?

Thomas Auerbach: Also werden wir im besten Falle noch einige Monate im Lockdown light bleiben. Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch groß, dass uns in einiger Zeit ähnliche Bilder wie aktuell in London drohen. Wie wir dann rückwirkend über Schulöffnungen, aber auch unser privates Ski- und Rodelvergnügen denken, darauf bin ich gespannt. Eines steht fest: Wir alle zusammen haben es in der Hand, jeder von uns entscheidet in seinem Verantwortungsbereich, ob und wie wir diese Pandemie letztlich überwinden. Der beste Zeitpunkt, konsequenter zu sein, war gestern. Der zweit­bes­te ist heute. ist

Der Kirchheimer Thomas Auerbach ist stellvertretender Vorsitzender im Verband der Ersatzkassen (vdek) und Mitglied im Verwaltung
Der Kirchheimer Thomas Auerbach ist stellvertretender Vorsitzender im Verband der Ersatzkassen (vdek) und Mitglied im Verwaltungsrat der BARMER.