Europawahl 2019

Wo steuert Europa hin?

Vortrag Professor Hans-Jürgen Bieling sieht die EU in einer Dauerkrise. Er spricht über Ursachen und Lösungswege.

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Kirchheim. Schwere Kost, mit der sich die Bürger im evangelischen Gemeindehaus St. Ulrich zu beschäftigen haben. Das Thema ist topaktuell, drei Wochen vor der Europawahl am 26. Mai. Entsprechend ist das Interesse, fast kein Platz bleibt frei an diesem Abend.

Bieling stellt der EU von ihrer Struktur und Arbeitsweise her kein gutes Zeugnis aus. „Zu wenig Demokratie“ mutmaßt er - und zu wenig Akzeptanz in der Bevölkerung. „Wir stecken mitten in einer Entwicklungskrise“, sagt er und stellt zunächst die Entwicklung von Staatsschulden und ihre Folgen auf die Gesellschaft dar. Die von manchen Staaten ausgeübte „Austeritätspolitik“ sei ein Teufelskreis. Austerität steht für eine strenge Sparpolitik, Konsolidierung der Staatsverschuldung durch das „Abknapsen“ von Steuergeldern und strikten Ausgabensenkungen. Migration ist für den Wissenschaftler ein zweiter Grund für die Krise der EU. In allen europäischen Ländern führt dies zu nationalistisch-populistischen Tendenzen, ein Ende ist kaum absehbar. Nicht genug: Auch das Verhältnis zu den USA und China, die neue Triade-Konkurrenz, wird vermehrt zu Diskussionen führen. „Wir müssen schauen, dass der Laden nicht auseinander fällt“, befürchtet Bieling. Krisen über Krisen, und „die Bundesregierung sitzt es aus“. Weitere Sorgen bereiten dem Politikwissenschaftler Länder wie Ungarn, Polen, Italien und Frankreich. Dort regiert zwar Emmanuel Macron, aber Rivalin Marine Le Pen hat in Umfragen die Nase vorn bei der Europawahl.

Logische Folgerung: Europa muss sich verändern. Hans-Jürgen Bieling pocht auf eine gemeinsame Steuerpolitik und einen gemeinsamen europäischen Haushalt. Auch Industrie und Wirtschaft müssen in Europa an einem Strang ziehen, sagt er, und das EU-Parlament soll dabei als Kontrollgremium agieren. Deutlich mehr Transparenz ist das Gebot der Stunde - denn wer weiß denn heutzutage schon, was die einzelnen Fraktionen des Parlaments tatsächlich bewirken? Das macht die Entscheidung am Wahlsonntag nicht einfach. Der Politikwissenschaftler plädiert dafür, dem europäischen Parlament sukzessive mehr Rechte zu gewähren: „Wir brauchen auch in Brüssel so eine Art Regierung und Opposition“. Denn nur so werden politischer Wille und Mehrheiten auch in der Öffentlichkeit klar. Momentan „kriegt ja keiner richtig mit, dass dort richtig gearbeitet wird“. Das Europäische Parlament sei „so eine Art Wolkenkuckucksheim“ schmunzelt Bieling in der Debatte im Anschluss an seinen Vortrag. „Wie lassen sich notwendige Veränderungen durchsetzen?“ will einer der Zuhörer wissen. Der Politikwissenschaftler glaubt, dass Deutschland sein Gewicht innerhalb der EU mehr in die Waagschale werfen sollte: „Obwohl Deutschlands Stimme viel zählt, wird zu wenig Druck ausgeübt“, Druck auf die Durchsetzung dringend notwendiger Reformen und Beschleunigung der trägen Entscheidungswege zwischen Parlament, Kommission und Europarat.

Zu dem Vortrag über Krisen der EU, Ursachen und Lösungswege hatte das Kirchheimer Forum 2030 eingeladen, speziell die darin zusammengeschlossenen Organisationen Pax Christi, Attac, BUND, die GEW sowie die Frauenliste und die Initiative gegen TTIP. Finanziert wurde der hochkarätige Referent aus Mitteln des Programms „Demokratie leben“. Andrea Barner

Drei Fragen an Professor Hans-Jürgen Bieling

Wieso brauchen wir ein „anderes Europa“?

Die Art und Weise, wie die europäische Union strukturiert und organisiert ist, hat eine Reihe von Krisen erzeugt. Europa driftet ökonomisch auseinander. Es gibt keine Instrumente, dem entgegenzusteuern. Die europäische Union ist intern wenig demokratisch strukturiert. Es gibt zwar ein europäisches Parlament, das hat auch Kompetenzen. Aber die Öffentlichkeit ist darüber kaum informiert.

Welche konkreten Ideen oder Vorschläge haben Sie?

Ich denke schon, dass die Idee einer europäischen Wirtschaftsregierung mit einem größeren Budget ein Ins­trumentarium ist. Also Industriepolitik heißt nicht bloß Produktion, sondern das ist eine gezielte Förderung einzelner Sektoren, also Unternehmen, auch im Dienstleistungsbereich.

Was müsste passieren, damit da mal Bewegung reinkommt?

Es müssten Alternativen wirklich diskutiert werden. Die meisten sagen, „Europa ist wichtig“, aber das war‘s. Die Parteien müssen sagen, was sie für Europa wollen und Entscheidungsträger müssen mehr Energie in den Wahlkampf stecken. Man hat von den etablierten Parteien gehofft, dass das Aufkommen des Rechtspopulismus stimulierend wirkt. Das mag punktuell der Fall sein. Aber das war’s dann auch, und das ist zu wenig, damit Europa wirklich mit Leben gefüllt wird.aba