Steingau-Quartier
Steingauareal: Das Vorzeigequartier lebt

Stadtentwicklung  Mit dem Steingauquartier geht die Stadt Kirchheim neue Wege: Das Quartier selbst soll die gesamte Gesellschaft spiegeln, die einzelne Straße ist das Wohnzimmer der Nachbarschaft, die Gebäude tragen das Gesicht ihrer Bewohner. Von Irene Strifler

Aus dem Café strömt Kuchenduft, einen Steinwurf weiter dringt das Geräusch eines Bohrers aus den Räumen einer Zahnarztpraxis, ältere Herrschaften mit Rollator steuern durchs Viertel, Mütter beugen sich über Kinderwägen, Geschäftsleute hasten mit Aktentaschen durch die Gassen . . . Das Steingauquartier lebt. Gerade mal vier Jahre ist es her, dass

 

Manchmal waren acht Kräne gleichzeitig im Einsatz.
Planer Gernot Pohl erinnert sich an die
komplizierte Baustellenlogistik im Steingauviertel.
 

die Bagger anrollten, um die ersten Tiefgaragen und Keller anzulegen. Doch jetzt schon bewährt sich in der Praxis, was sich die Planer von dem zentral gelegenen Areal auf der einstigen Gewerbebrache erhofften: Handel und Gewerbe sollten dort ebenso vertreten sein wie Bewohnerinnen und Bewohner aus allen Generationen und möglichst auch verschiedener Einkommensklassen. Eine Stadt in der Stadt eben.

Was großstädtisch anmutet, funktioniert auch in Kirchheim. 3,5 Hektar misst die Fläche, auf der die Neubebauung entstanden ist. In 45 Gebäuden entstehen 375 Wohnungen, die von etwa 800 Menschen bewohnt werden. Mehr als zwei Drittel der Gebäude sind bereits von Leben erfüllt. Straßennamen wie etwa „Rosa-Heinzelmann-Straße“ und „Friedrich-Tritschler-Straße“ sind längst nicht nur Postboten ein Begriff.

Dabei war der Weg zum neuen Vorzeigequartier alles andere als einfach. Stadtplaner Gernot Pohl erinnert sich an seinen Dienst­antritt im Jahr 2003: „Die Fläche war damals eine Gewerbebrache.“ Im März 2009 wurde allerdings schon auf dem ehemaligen Kolb-und-Schüle-Gelände nebenan das Nanz-Center eröffnet. Angrenzend sollte Wohnbebauung entstehen, soweit war man sich einig. Gemeinsam mit dem Besitzer, der Firma Nanz, wurde 2010 ein städtebaulicher Wettbewerb durchgeführt, aus dem das Büro KLE als Sieger hervorging.

So weit, so normal. Doch ab da beschritt man im Steingauquartier neue Wege. Der „Urgedanke der europäischen Stadt“, wie Gernot Pohl beschreibt, wurde zum Ideal für das Viertel: Dort sollten Leute siedeln, sich mit dem Ort identifizieren und der Gesellschaft, in der sie bauen und leben, auch etwas zurückgeben wollen. Vorbilder dafür gab’s in Tübingen gleich mehrfach, das berühmteste ist das Französische Viertel.

In die Studentenstadt am Ne­ckar brachen Verwaltungsmitglieder, Räte, Architekten, Banker und andere am Projekt Interessierte auf. Vor Ort nahmen sie die Modellviertel unter die Lupe, Vertrauen entstand. Zeit zur Vorbereitung gab’s genug. Klar war nämlich, dass die Stadt Eigentümerin des Areals sein müsse. Doch die Verhandlungen mit Nanz zogen sich sechs Jahre hin. Im Windschatten der scheinbaren Untätigkeit wurde eifrig geplant. Die entscheidende Gemeinderats-Sitzung fand im Oktober 2017 statt. Allein fünf Sitzungsvorlagen befassten sich mit dem Steingauzentrum, vom Erschließungsbeschluss bis zum Nahwärmekonzept.

Ab da ging’s voran. Zwischenzeitlich hatten sich auf mehreren Stadthausbörsen Bauwillige zusammengefunden und legten ihre Ideen vor, wie sie sich Wohnraum verschaffen und die Stadtgesellschaft oder auch das Quartier bereichern könnten. Eine Jury bewertete die Vorschläge.

2019 lief die Giga-Baustelle längst auf Hochtouren. Mehrere Baugruppen waren mit verschiedenen Bauträgern zugange – was der heimischen Wirtschaft zugutekam, denn hier wurde nicht europaweit ausgeschrieben und dann womöglich zu Dumpingpreisen vergeben. „Auf dieser Baustelle gab’s nahezu ausschließlich regionale Autokennzeichen“, freut sich Gernot Pohl. Auch die Baustellenlogistik musste wohldurchdacht werden: „Manchmal waren acht Kräne gleichzeitig im Einsatz“, erinnert sich der Stadtplaner. Das galt es zu koordinieren. Ebenso war eine spezielle Projektsteuerung nötig. Sie vernetzte Architekten und Bauinteressierte und begleitete den basisdemokratischen Planungsprozess, holte aber auch rechtzeitig Finanzierungsbestätigungen und Ähnliches ein.

All das liegt hinter der Bewohnerschaft. Viele Bauzäune wurden schon abgebaut, Lärm und Dreck nehmen ab. Nächstes Jahr schließen die Pflaster, Baumpflanzungen und der Quartiersplatz das Gesamtprojekt ab. Das Vorzeigequartier pulsiert schon jetzt.

 

Kommentar: Großer Wurf im Geist von Pippi Langstrumpf

Ich mach’ mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt! So trällerte frech ­Pippi Langstrumpf und strahlte in ihrer Unkonventionalität erkennbar Zufriedenheit aus. Vor den Bildschirmen verfolgte die „Boomer­generation“, die meist mehr dem angepassten Geschwisterpaar Thomas und Annika entsprach, das Treiben des selbstbewussten Mädchens. Manche dieser Fans leben heute voll Überzeugung im neuen Steingauquartier. Dort hat die Stadt im Grunde das gemacht, wovon Pippi singt: Die einmalige Chance wurde genutzt, eine große innenstadtnahe Industriebrache mutig innovativ zu gestalten. Herausgekommen ist der große Wurf, getragen von Kreativität und Kompetenz aller Akteure.

Natürlich stimmt: Wer die Fläche, die Vision und die Kohle hat, kann Stadt bauen, widdewidde wie sie ihm gefällt. Doch tun es die wenigsten, auch Städte verharren meist im Annika-Modus und handeln nach Schema F: Ein einziger Bauträger kauft und baut alles. Das geht flotter. Aber: Die hart erkämpfte Individualität kommt zum einen der Stadtgesellschaft zugute, da sich ja jede Baugruppe einen sozialen Aspekt überlegen musste. Zum anderen macht sie glücklich. Die Häuser erinnern bei aller Größe doch ein wenig an Pippis Villa Kunterbunt: Hier bunte Briefkästen, dort gelbe Balkonverkleidungen, dazwischen ein eckiger roter Erker, mal Holz, mal Beton . . .

Mehr Individualität bei so viel Stadt findet man im weiten Umkreis nicht. Hier haben Bau­willige Stadt geschaffen, widde­widde wie sie ihnen gefällt! Irene Strifler