Wie Ralph Stierle mit seiner brasilianischen Familie die Fußball-Weltmeisterschaft vor Ort erlebt
Stichelnder Schwabe hofft auf Klose

Der Oberlenninger Ralph Stierle lebt seit 20 Jahren in Brasilien. Am heutigen Dienstag ist für ihn natürlich ein ganz besonderer Tag: Ausgerechnet bei der Heim-WM trifft die Mannschaft seiner Wahlheimat auf das Team seiner „alten“ Heimat. Seine Prioritäten sind dabei klar verteilt. Das Leben in Brasilien gefällt ihm besser als das in Deutschland. Trotzdem hofft er auf einen Sieg für Jogis Jungs.

Andreas Volz

Lenningen. Als Ralph Stierle im Juli 1994 zum ersten Mal nach Brasilien gekommen ist, war gerade die WM in den USA. Brasilien holte sich den Titel – und zwar im Elfmeterschießen ge-
gen die Italiener, nach einem torlosen Finale. In der Erinnerung beschreibt er die Situation von damals in zwei Worten, die alles aussagen: „Riesen Party“. 2002, als er längst in Brasilien sesshaft geworden war, holte Brasilien erneut den Cup: durch ein 2:0 im Finale gegen Deutschland, in der bislang einzigen WM-Begegnung beider Teams.

Auch daran kann sich Ralph Stierle genau erinnern, und für heute Abend plant er mit derselben Taktik wie vor zwölf Jahren: „Ich werde zwei T-Shirts anhaben“, schreibt er per 
E-Mail aus seinem Wohnort São Paulo. Dass er das deutsche Trikot oben trägt, ist für ihn „logisch“. Zur Absicherung aber – für alle Fälle – hüllt er sich darunter in Gelb: „Wenn dann Deutschland verlieren sollte, kommt das weiß-rote Trikot schnell runter, und wir feiern für Brasilien, wie auch damals 2002!“ Er selbst ist beim Daumendrücken „ganz klar für Deutschland“, schränkt aber sofort ein: „obwohl es ein bisschen wehtut“.

Einen prominenten „Kollegen“ hat Ralph Stierle übrigens im VIP-Bereich des Stadions in Recife getroffen, beim Vorrundenspiel der Deutschen gegen die USA: Berti Vogts. „Kollege“ ist der deutsche Europameister-Trainer von 1996 insofern, als auch er in diesem Fall zwei Herzen in seiner Brust schlagen hatte. Zu Romero Maia, einem von Ralph Stierles Bekannten aus São Paulo, habe der einstige „Terrier“ gesagt, dass er „natürlich für die USA“ sei. „Dann hat er sich zu mir gedreht“, berichtet der Oberlenninger weiter, „und grinsend gesagt: ,Aber nur 90 Minuten lang‘.“

Vanessa, Ralph Stierles brasilianische Frau, ist natürlich nicht nur heute und auch nicht nur 90 Minuten lang für Brasilien. Aber immerhin „sympathisiert sie mit Deutschland“. Es geht ihr also eigentlich genauso wie ihrem schwäbischen Ehemann, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Bei den beiden Jungs dagegen – dem zehnjährigen Luka und dem sechsjährigen Caio – ist es noch nicht ganz klar, bei welchem Team sie stärker mitfiebern. Aber der Papa hat schon eine Tendenz ausgemacht, die er auch gut begründen kann: „Ich glaube, sie sind eher für Brasilien, weil sie mehr Bezug zum Land haben.“

Seinen eigenen Bezug zum Land hat Ralph Stierle vom ersten Augenblick an entwickelt: „Zuerst hat es mich geschäftlich nach Brasilien verschlagen. Die Menschen und das Leben hier haben mich sofort fasziniert. Trotz Armut und politischer Probleme können die Brasilianer immer feiern. Sie sind locker und entgegenkommend, einfach sehr, sehr nett.“ Die Liebe war es, die ihn in Brasilien hielt. Zwar noch nicht die Liebe zu seiner heutigen Frau. Aber immerhin hat er seine Vanessa schon ein Jahr später kennengelernt. Auf die Frage freilich, ob er jemals daran gedacht hätte, sich einmal dauerhaft in Brasilien niederzulassen, antwortet er klar und deutlich: „Mit Sicherheit nicht.“

Mittlerweile kann er sich eine Rückkehr nach Deutschland nicht mehr richtig vorstellen: „Nur wenn es nicht anders gehen würde. Ich weiß aber nicht, ob ich mich wieder einfügen oder anpassen könnte.“ Die Sehnsucht nach Deutschland lässt sich stillen: durch Besuche von Freunden – wie Ralf Weil aus Oberlenningen und Ralf Goekeler aus Brucken, die mit ihm zusammen die deutschen Vorrundenspiele gegen Ghana und gegen die USA im Stadion angeschaut haben –, durch Familienurlaube in Europa und durch geschäftliche Besuche in der alten Heimat. Schließlich arbeitet er als Serviceleiter von Südamerika bei „bielomatik / do Brasil Ltda.“ und hat so ständig Kontakt zum Stammsitz seines Unternehmens in Neuffen.

Auf die Frage, was er an Deutschland überhaupt nicht vermisst, antwortet Ralph Stierle: „Stechuhren und Stammtisch-Intelligenzbolzen.“ Was ihm dagegen fehlt, sind „Familie, Freunde, Rote Wurst, Autobahnen ohne Tempolimit und Weihnachten mit viel Schnee “. An Brasilien wiederum gefällt ihm das dortige Weihnachten sehr gut – „in Großfamilien mit 50 oder 60 Leuten“ –, außerdem „die Menschen, das Klima und die Strände“. Weniger gut gefallen ihm „die sozialen Unterschiede, die Angst vor Überfällen und die Korruption der aktuellen Politiker, die strafrechtlich ohne Folgen bleiben wird“.

Gerade deshalb ist Ralph Stierle eigentlich gar nicht so begeistert von der Vorstellung, dass Brasilien jetzt am Sonntag Weltmeister werden könnte: „Dann würde sich die aktuelle Regierung mit dem Titel schmücken, und sofort wären alle Probleme Brasiliens vergessen. Das hätte dann riesigen Einfluss auf die bevorstehenden Wahlen im November.“

Seit 1995 lebt der 45-jährige Schwabe dauerhaft in São Paulo, „mitten im Herzen der Stadt, ganz in der Nähe des berühmten Fußballstadions Morumbi“. Dieses Stadion war ursprünglich als WM-Spielort vorgesehen. Tatsächlich aber finden beziehungsweise fanden die sechs Spiele in der größten Stadt Brasiliens (über elf Millionen Einwohner) in der „Arena de São Paulo“ statt, dem neu gebauten Stadion der „Corinthians“. Unter anderem war dort das Eröffnungsspiel der WM. Außerdem entscheidet sich am morgigen Mittwoch in São Paulo, wer der Finalgegner von Deutschland oder Brasilien wird: entweder Argentinien oder die Niederlande.

Sollte Deutschland ins Finale kommen, würde sich Ralph Stierle – auch im Interesse des deutschen Teams – Argentinien als Gegner wünschen. Denn er schreibt: „Wenn Brasilien gegen Deutschland ausscheiden sollte, wäre die Stimmung hier sehr getrübt. Um die Stimmung wieder zu retten, müsste unbedingt Argentinien ins Finale kommen. Dann wären 200 Millionen Brasilianer für Deutschland.“ Schon 2010, nachdem Deutschland die Argentinier mit 4:0 nach Hause geschickt hatte, „haben die Brasilianer mit uns gefeiert, wie wenn sie gewonnen hätten“. Dem Nachbarland gönnt man also nichts.

Grundsätzlich habe Brasilien großen Respekt vor der deutschen Elf. Aber die letzten Spiele ließen wieder Hoffnung aufkommen, dass Brasilien stärker wird und dass auch Deutschland nur mit Wasser kocht. Deswegen gebe es jetzt im ganzen Land die große Hoffnung, dass Brasilien mit einem Sieg über Deutschland ins „Finale dahoam“ einzieht – obwohl Thiago Silva und Superstar Neymar heute ausfallen. Beide Ausfälle seien für die Brasilianer „komplette Tiefschläge“ gewesen: „Seither wird nicht mehr über die Mannschaft geredet, sondern nur noch über das Befinden Neymars. Der wird hier wie ein Nationalheld gefeiert.“

Ralph Stierle denkt dagegen an zwei ganz andere fußballerische Nationalhelden, wenn er seinen Tipp fürs Halbfinale abgibt: „Weil Thiago und Neymar fehlen, tippe ich auf ein spannendes 1:0, mit Tor von Klose. Das Tor Kloses wäre das Sahnehäubchen, weil er dann am brasilianischen Idol Ronaldo vorbeizieht.“ Das würde er seinen brasilianischen Freunden zu gerne unter die Nase reiben: „Die Brasilianer sind sehr leidenschaftlich und temperamentvoll, was mich innerhalb kurzer Zeit vom Kumpel zum Konkurrenten macht.“ Das ist aber nicht so schlimm, denn zumindest einen Weltmeister haben die Deutschen schon: Ralph Stierle, der von sich sagt: „Ich habe ein dickes Fell und kann gut damit umgehen – und im Sticheln bin ich Weltmeister.“