Rund 5 000 Besucher strömten am Wochenende zum Wollmarkt in die Teckstadt
Tänze, Umzug und Wiegeaktion

Am vergangenen Wochenende lebten rund um den Kirchheimer Schlossplatz vergangene Zeiten wieder auf: Zwischen 1819 und 1914 war die Fachwerkstadt der größte Wollhandelsplatz im damaligen Königreich Württemberg. Traditionelle Tänze, Spinnvorführungen und ein Umzug erinnerten beim Wollmarkt an diesen historischen Hintergrund.

Mit einer Fahrt auf dem Wollwagen eröffneten Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker (rechts) und Dekanin Renate Kath am Sam
Mit einer Fahrt auf dem Wollwagen eröffneten Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker (rechts) und Dekanin Renate Kath am Samstag den Wollmarkt. Bei der Veranstaltung, zu der rund 5¿000 Besucher kamen, gab es ein buntes Programm. Unter anderem konnte man die Kunst des Spinnens erleben (kleines Foto unten).Fotos: Genio Silviani
Kirchheim. Rund 5 000 Besucher gaben sich am Wochenende in der Teckstadt ein Stelldichein. Unter dem Beifall der Passanten eröffneten Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker und Dekanin Renate Kath gegen 11 Uhr mit einer Fahrt auf dem Wollwagen die Veranstaltung.

Am 28. September 1841 war zum 25. Regierungsjubiläum des Königs ein gewaltiger Festzug in der Hauptstadt Stuttgart veranstaltet worden, der Wirtschaft, Bevölkerung und Charakter des Landes repräsentieren sollte. Hofbaumeister Knapp, den Wilhelm I. im Jahr 1839 in Rom getroffen hatte, entwarf den Wollwagen, der das Oberamt Kirchheim repräsentierte. Anhand der historischen Aufzeichnungen wurde der Wagen anlässlich der Wiederbelebung des Wollmarktes rekonstruiert und beim Festumzug 2010 erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Angeführt vom Kirchheimer Trachtenverein bahnte sich der Umzug am Samstag seinen Weg quer durch die Innenstadt. Stolz präsentierten die Vereinsmitglieder die traditionelle Kirchheimer Schäfertracht. Vortänzer Egon Ebner berichtete, dass die Hirschlederhose zur Alltagskleidung der Schäfer im 19. Jahrhundert zählte. Die Haut der Geweihträger sei besonders strapazierfähig und robust und deshalb besonders gut für den Arbeitsalltag in der Schäferei geeignet gewesen. „Es gibt auch Hosen aus Gamsleder“, sagte Ebner. „Aber die werden mit der Zeit hart, während Hirschleder den weiteren Vorteil hat, dass es geschmeidig und weich bleibt und daher auch angenehm zu tragen ist.“

Zur Tracht gehörte auch eine Weste mit 18 Silberknöpfen. Diese zeigten laut Georg Ebner den Reichtum der Schäfer. Das Geschäft mit der Wolle sei sehr lohnend gewesen. So wurden auf den ein Mal jährlich stattfindenden Wollmärkten Umsätze von über 600 000 Gulden erzielt. „Eine Reise nach Amerika kostete damals etwa 108 Gulden“, erzählte Georg Ebner. „Der Vergleich zeigt, dass die Schäferei einen guten Lebensunterhalt bescherte.“

Auch eine Jacke und eine Kopfbedeckung aus Schafsfell gehörten zur traditionellen Kleidung, die am Wochenende präsentiert wurde. Die Frauen trugen eine lange Unterhose, einen Unterrock, ein Kleid und darüber eine Schürze, eine weiße Bluse und ein schwarzes Häubchen. Letzteres symbolisierte, dass die Frauen verheiratet waren.

Kirchheimer Wollmarkt 2012
Kirchheimer Wollmarkt 2012
Im Verlauf des Festprogramms führte der Kirchheimer Trachtenverein auch traditionelle Tänze auf, darunter die Schwäbische Tanzfolge, die sich aus verschiedenen traditionellen Tänzen aus den umliegenden Ortschaften zusammensetzt. Helmut Schuster, Ehrenvorstand des Trachtenvereins, erklärte, dass sich die Zunfttänze aus den Arbeitsabläufen der jeweiligen Berufe heraus entwickelt haben und zum festen kulturellen Repertoire einer Zunft wurden.

Die Besucher konnten darüber hinaus an den 30 Markständen lokale Lammprodukte und handgefertigte Lederartikel erwerben, bei einer kostenlosen Stadtführung mehr über die Geschichte Kirchheims erfahren und am Sonntag rund 125 Oldtimer bestaunen. Außerdem führte der Spinnkreis Nürtingen die Besucher in die Kunst des Spinnens ein. Interessierte konnten mitverfolgen, wie lose Fasern durch gleichzeitiges Verdrehen und Auseinanderziehen zu einem Faden verarbeitet wurden. Georg Leichtlen berichtete, dass die ersten Spinnräder im zwölften Jahrhundert angefertigt wurden. Dabei habe es sich um Spindelspinnräder gehandelt. Erst im 15. Jahrhundert finden sich Leichtlen zufolge bildliche Nachweise von Flügelspinnrädern. Im 17. Jahrhundert sei ein Fußtritt hinzugekommen. Mit diesen Spinnrädern sei auch im 19. Jahrhundert gearbeitet worden. Die aus Holz gefertigten Konstruktionen seien teuer gewesen, weshalb sie bei wohlhabenderen Menschen verbreitet waren. Die ländliche Bevölkerung habe hingegen die Handspindel eingesetzt.

Einen Höhepunkt der Veranstaltung bildete am Samstag eine Wiegeaktion, deren Erlös der Sanierung der Martinskirche zugute kommt. Dabei sollten die Marktbesucher schätzen, wie viel Oberbürgermeisterin Matt-Heidecker und Dekanin Kath zusammen mit zwei Lämmern auf die Waage bringen. Das exakte Gewicht der beiden Damen mit je einem Lamm auf dem Arm liegt bei 198,2 Kilogramm. Der Gewinner der Aktion wird in den nächsten Wochen zu einem Benefiz-Konzert mit anschließendem Vesper in die Türmerstube des Martinskirchturms eingeladen – natürlich gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin und der Dekanin.

Im Jahr 1836 hat sich der Kirchheimer Wollmarkt zum Haupthandelswollmarkt entwickelt, erzählte Angelika Matt-Heidecker. Geschäftsleute aus der Schweiz, Österreich und Bayern seien damals in die Teckstadt gekommen. Jürgen Schröter, Leiter des Sachgebiets Stadtmarketing und Öffentlichkeitsarbeit, berichtete, dass 1868 auf dem Wollmarkt 16 107 Zentner Wolle umgeschlagen wurden. 99,4 Prozent dieser Menge seien damals verkauft worden. „Die Wolle kam zum größten Teil aus dem Inland, aber auch aus Bayern“, sagte Schröter. „Zeitweilig wurden rund 50 Prozent der in Württemberg produzierten Wolle in Kirchheim verkauft.“

Jürgen Schröter betonte, dass der wiederbelebte Wollmarkt den Bekanntheitsgrad Kirchheims in der Region Stuttgart fördere. „Wir haben bewusst auf einen Mittelaltermarkt verzichtet“, sagte er. „Wir wollten mit einem Markt, der eine Facette des 19. Jahrhunderts widerspiegelt, ein Alleinstellungsmerkmal schaffen, mit dem sich die Stadt von bereits vorhandenen Märkten im näheren Umkreis abgrenzt.“ Angesichts der Besucherzahlen war Schröter überzeugt, dass dies auch gelungen ist.