Bianca Lütz-Holoch
Neidlingen. Leichtfüßig und mit fließenden Bewegungen gleiten die Paare übers Parkett im Vereinsraum der Alten Schule in Neidlingen. Schnell wird beim Zuschauen klar: Hier ist der Name Programm. „Der Tanz heißt Schlittschuhläufer und kommt aus Bissingen“, erläutert Traude Sigel, die zusammen mit ihrem Mann Hans-Georg Sigel die Tanzleitung der Gruppe Neidlingen inne hat. Warum gerade ein Tanz aus Bissingen diesen Namen trägt, dafür hat sie eine Erklärung parat: „Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass es in Bissingen einen See gibt und man dort Schlittschuh laufen konnte.“
Der „Schlittschuhläufer“ ist nicht der einzige Tanz im Repertoire der Neidlinger Gruppe, der aus der nächsten Umgebung stammt, von Bauern oder Schäfern überliefert und dann aufgezeichnet wurde. So tanzte man den „Blumenwalzer“ einst in Häringen, „D‘r Ziegler uf d‘r Hütten“ kommt wiederum aus Bissingen und hat schon einen ganz anderen Charakter als der zarte Schlittschuhläufer: Bevor die Paare loswirbeln, klatschen sie sich kräftig auf die Schenkel, auf die Brust und in die Hände.
Während sich die Tänzer im Kreis drehen, die Partner wechseln oder unter den Armen der anderen hindurchtauchen, haben sie ein Strahlen im Gesicht. „Wir machen das aus Spaß“, betont Renate Hitzer. Sie ist Mitglied der Tanzgruppe und leitet die Geschäftsstelle des Schwäbischen Albvereins in Neidlingen, aus dessen Mitte heraus die Volkstanzgruppe vor knapp 50 Jahren gegründet wurde.
Bei aller Freude an Tanz und Geselligkeit leistet die Gruppe einen wichtigen Beitrag zum Erhalt von Kulturgut: Rund 70 traditionelle Tänze aus Baden-Württemberg, Deutschland und ganz Europa gehören zum Repertoire der Volkstanzgruppe. Sie werden regelmäßig durch neue Tänze erweitert, aufgefrischt und auch aufgeführt. Ein riesiger Brocken war da etwa der „Webertanz“. „Das ist ein Zunfttanz für acht Paare, den wir anlässlich der 1200-Jahr-Feier in Neidlingen einstudiert haben“, berichtet Traude Sigel. Aber auch sonst zeigen die Tänzer immer wieder vor Publikum, wie früher getanzt wurde – sei es bei den Dreier-Tänzen, die daran erinnern, wie die Schäfer früher oft an jeder Hand ein Mädchen hatten oder bei Kreisformationen wie dem Schwedentanz. „Im Ort haben wir in der Regel drei Auftritte im Jahr“, sagt Hans-Georg Sigel. Dazu kommen andere Engagements, etwa bei der CMT oder beim Festzug in Ochsenwang.
Läuft während der Übungsabende meist eine CD, so ist bei Auftritten stets für Live-Musik gesorgt. Gleich zwei Formationen gehören zur Volkstanzgruppe. Eine Tanzband mit Flöte, Akkordeon und Gitarre sowie die Gruppe „O‘Gwiss“, die mit Sackpfeife, Drehleier und Krummhorn für historisches Flair in Tanzpausen oder während der schwäbischen Tänze sorgt.
Und noch einen Traum hat sich die Volkstanzgruppe durch harte Arbeit verwirklicht: das eigene „Danzhäs“. „Früher haben wir bei Auftritten immer im Dirndl getanzt“, erinnert sich Renate Hitzer zurück. Der Wunsch nach einer echten Tracht wurde aber immer stärker. Vor etwa 15 Jahren begannen die Gruppenmitglieder dann ihre Recherche. „Es gab aber keine Überlieferungen oder Bilder von einer speziellen Neidlinger Tracht“, berichtet Traude Sigel. Also stöberten sie in den Archiven und studierten Inventurlisten. Dort war genau vermerkt, welche Kleidungsstücke ums Jahr 1800 in Neidlingen bei Eheschließungen eingebracht und in Sterbefällen vererbt wurden. Die geläufigsten Kleidungsstücke wurden dann zur Grundlage für das „Neidlinger Danzhäs“ auserkoren. Damit begann die Arbeit aber erst. „Wir haben uns hier im Vereinsraum regelmäßig getroffen und gemeinsam genäht“, schwärmt Renate Hitzer von der Entstehungszeit. Die Frauentracht nähten die Tänzerinnen zum großen Teil von Hand. „Dafür haben wir viel alten Stoff verwendet“, so Hitzer. Altes Leinen vom Dachboden wurde eingefärbt, karierte Bettwäsche ziert nun die Innenseiten der dicken Wollröcke. „Wir bekamen auch Unterstützung von einer Schneiderin im Ort“, berichtet Daniela Strack, die ebenso wie ihr Mann aus Berlin stammt und seit 20 Jahren Mitglied der Neidlinger Volkstanzgruppe ist. Bei der Herrentracht mit Weste, Lederhose und Kirchenrock holten die Tänzerinnen dann einen spezialisierten Schneider mit ins Boot. Die „Krönung“ des „Danzhäs“ ist ganz neu in diesem Jahr dazugekommen: „Ein Dreispitz für die Männer und ein Häubchen für die Frauen“, sagt Traude Sigel und demonstriert die neuen Errungenschaften.
Auch wenn die Gruppe mit zehn Paaren stabil ist – viel Nachwuchs oder gar ein Jugendleiter sind nicht in Sicht. Damit die Tradition der alten Tänze und das Neidlinger Danzhäs auch künftig lebendig bleiben, ist die Gruppe stets offen für Neuzugänge. „Die Tänze zu lernen, ist gar kein Problem“, versichert Traude Sigel. Immer wieder seien in den vergangenen Jahren neue Tänzer dazugekommen, die sich schnell eingefunden hätten. Fürs „Danzhäs“ mussten die aber immer selbst sorgen: „Wer neu dazukommt, muss nachnähen“, sagt Renate Hitzer und schmunzelt.
Tanz und Tracht sind zwar die zentralen, aber nicht die einzigen Beiträge, die die Mitglieder der Volkstanzgruppe zur Heimatpflege leisten. Regelmäßig sind sie bei der Landschaftspflege der Wachholderheiden im Ort dabei, seit diesem Jahr kümmert sich die Gruppe zudem auch ums Schulgärtle in Neidlingen.