In seinem Buch über Martin Luther räumt der Theologe Andreas Malessa mit Irrtümern auf
Tintenfass und Lufthoheit

Nein – wahrscheinlich nicht – doch. So und so ähnlich antwortet der Theologe Andreas Malessa auf so manche populäre Behauptung über den Reformator Martin Luther. Hat er mit dem Tintenfass nach dem Teufel geworfen? Seine 95 Thesen an die Kirchentür gehämmert? Kam seine Frau im Heringsfass zu ihm?

Hochdorf. Martin Luther hat dem Volk aufs Maul geschaut und kein Blatt vor den Mund genommen. Der Theologe und Rundfunkjournalist Andreas Malessa, der in Hochdorf lebt, tut das zum Glück genauso. Sein neues Buch „Hier stehe ich, es war ganz anders – Irrtümer über Luther“ ist auch für Nichttheologen bestens zu verstehen. Wo nötig, liefert Malessa zu mittelalterlichen Zitaten die nötige Übersetzung mit – wer weiß schon, dass mit einem „verdrießlichen Handel“ ein Streit gemeint ist?

Hinter der lockeren Schreibweise steckt eine gründliche Recherche: Das Verzeichnis der verwendeten Literatur ist lang; es gibt fast 200 Fußnoten mit Quellenangaben. Malessa hat tief gegraben und viel Interessantes freigelegt. Die Freiheit, mit der Zuhörer Luthers Tischreden bearbeitet haben, erstaunt. Ebenso die Offenheit, mit der Luther über Persönliches sprach, etwa über seine zeitweise chronische Verstopfung.

Mancher Irrtum über Luther hat sich herumgesprochen – etwa, dass das Wort vom Apfelbäumchen, das noch kurz vor dem Weltuntergang gepflanzt wird, Luther nur zugeschrieben wird. Die Frage, ob Luther seine 95 Thesen tatsächlich an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen hat, hat laut Malessa bereits rund 300 wissenschaftliche Artikel und Aufsätze hervorgebracht.

Luthers Freund Philipp Melanchthon, erklärt Malessa, habe das Ereignis berichtet, aber erst Jahrzehnte später. Melanchthon habe sich in seinen Erinnerungen öfter getäuscht: Er schrieb auch, Luther habe Physik gelehrt. Für inhaltliche Auseinandersetzungen gab es einen gut geölten Dienstweg: Nach Freigabe durch den Dekan wurde ein Thesenpapier gedruckt und an die Studenten verteilt. Für eine öffentliche Diskussion heftete der „Pedell“, der Hausmeister und Bote der Hochschule, das Papier an alle Kirchentüren der Stadt, mit Angaben zur geplanten Veranstaltung versehen. Jedes seiner Abenteuer und jede Aktion, so Malessa weiter, habe Luther einmal bei seinen Tischreden behandelt. Zum eigenhändigen Thesenanschlag findet sich nichts, in keiner Rede, keinem Brief, in keiner Predigt. Auch ohne Luthers Hammerschläge fanden seine 95 Thesen ihren Weg, Freunde druckten sie auf Flugblätter. Schließlich landeten sie auf dem Schreibtisch des Papstes. Luther bekam eine offizielle Vorladung nach Rom.

Die Legende mit dem Tintenfass hat für Malessa einen metaphorischen Ursprung, entspringt der Macht des geschriebenen und gedruckten Wortes. Luther habe „den Teufel mit Tinte vertrieben“. In einem Gemälde findet sich dennoch der Fleck an der Wand. Weil man Touristen nicht enttäuschen sollte, fand sich der Tintenfleck bald auch in der Wartburg, wegen der Souvenirjäger immer wieder nachgemalt.

Luther war ein Kind seiner Zeit. Schriftsteller Thomas Mann nannte ihn einen „konservativen Revolutionär“. Doch in vielem war er seiner Zeit voraus, gemeinsam mit seiner Frau Katharina von Bora. Die beiden mochten sich wirklich, die ehemalige Nonne Katharina hatte vor der Hochzeit klar zum Ausdruck gebracht, wen sie haben wollte und wen nicht – etwa den ihr zugedachten Pfarrer Glatz. So etwas war für Frauen damals nicht üblich.

Im Buch rüttelt Malessa an mancher Legende, macht Luther als Mensch lebendig. Zugleich macht er die Bedeutung Luthers deutlich. Durch ihn, schreibt er, hätten Kirche und Staat die „absolute Lufthoheit über die Gewissen der Menschen“ verloren. Durch ihn kamen die geistigen Zwillinge Freiheit und Verantwortung auf die Welt, Grundlage jeder humanen Rechtsordnung.

Erwähnt werden muss noch Thees Carstens, Zeichner von Luther in allen Lebenslagen. Er hat für das Buch viele große Themen in wunderbare kleine Zeichnungen gepackt.