Dr. Winter und der „Arbeitskreis Jungen“ engagieren sich für das an Schulen benachteiligte „starke Geschlecht“
Unangepasste Rebellen als potenzielle Verlierer auf Zeit

Während derzeit das Thema Frauenquote in aller Munde ist und kontrovers diskutiert wird, richtet der „AK Jungen“ sein Augenmerk auf eine ganz andere Gruppe. „Jungen als Schulverlierer“ lautete das interessante Thema eines Abendvortrags in der Alleenschule.

Kirchheim. Sehr gerne war Dr. Reinhard Winter, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts Tübingen (SOWIT) der Einladung des „Arbeitskreises Jungen“ an die Alleenschule nach Kirchheim gefolgt. Schulsozialarbeiter Günter Dickhoff konnte gemeinsam mit Martin Lempp vom Brückenhaus zahlreiche Pädagoginnen, ihre zahlenmäßig unterlegenen Kollegen sowie Vertreter der Stadtverwaltung begrüßen.

Weitere Mitglieder des sich mit Jungen und ihren Problemen beschäftigenden „AK Jungen“ sind Herrmann Sommer (Sozialer Dienst), Wolfgang Schinko (KIZ), Ahmet Aksu (Bruderhausdiakonie Reutlingen), Joachim Elgert (Pro Familia) und Susanne Alex (Stiftung Tragwerk).

Mit seinem Impulsreferat über die ganz spezifische Situation der im Bildungsangebot der Schulen eher benachteiligten Jungen konnte Dr. Reinhard Winter sein interessiertes Publikum für ein wichtiges Thema sensibilisieren und die fachkundigen Besucher zu einer engagierten Diskussion anregen. Wie die großen Vergleichsstudien zum Bildungsstand belegen, sind schließlich Jungen in der Schule die klaren Verlierer, wenn es um Noten und Leistung geht.

Bei seiner einleitenden Frage, was denn ein Junge sei, wurde Dr. Winter gleich eine Vielzahl „typischer Eigenschaften“ zugerufen. Ob sie tatsächlich „wild“ oder „faul“, „technisch begabt“, „sensibel“ oder „sportbegeistert“ sind, war dabei gar nicht so relevant. Wichtiger als stereotype Eigenschaften war dem Wissenschaftler das Bewusstsein für die den Schul­erfolg nachhaltig prägenden signifikanten Unterschiede zu Mädchen. In der Entwicklung ihren Mitschülern haushoch überlegen, werden Mädchen durch die im Schulunterricht auf kognitive Lernformen ausgerichteten Fähigkeiten zusätzlich begüns­tigt.

Bei allem erkennbaren Bemühen, keine Zerrbilder zu entwerfen, konnte Dr. Winter im Kreis bereits für die Problematik sensibilisierter Menschen bewusst machen, dass die später im Berufsleben tatsächlich oft benachteiligten Mädchen in der Schule weit besser gefördert und motiviert werden als Jungen. Brav, angepasst, fleißig und damit relativ pflegeleicht werden sie von empathischen Lehrkräften gerne unterstützt. Die testosteron- und konkurrenzkampfgestressten Jungen kaschieren derweil ihre Verunsicherung mit Rebellion und einsam machender Aufsässigkeit und setzen tagträumerisch auf ihre „gefühlte Genialität“.

Auf zwei unwidersprochene und wirkungsvolle Grundaussagen legte sich der stets um Klarheit und Pragmatik bemühte Wissenschaftler dann aber doch fest: Zum einen könnten Jungen tatsächlich sehr anstrengend sein, zum anderen würden sie auch häufig dem Stereotyp gerecht, sich nicht gerne anstrengen zu wollen. Tatsächlich hätten sie in der Schule lange Zeit gar keine Chance, gegen die mental und körperlich überlegenen Mitschülerinnen anzukommen. Gleichaltrige Mädchen würden die Jungen durch ihre Überlegenheit zu verhaltensauffälligen Verlierern machen, die ihr gefährdetes Selbstwertgefühl zuweilen mit Statussymbolen stützen möchten.

Desillusioniert darüber, nicht durch Leistung zu sofort erkennbarem schulischen Erfolg kommen zu können, „provozieren sie, begeben sich in Autoritätskonflikte und versuchen, sich zu behaupten“, macht Dr. Winter deutlich. Kritisch sieht er auch die Tatsache, dass Jungen vorwiegend Erzieherinnen, Pädagoginnen Müttern oder anderen weiblichen Bezugspersonen anvertraut sind. Sie werden dadurch zu wenig gefordert und gefördert, wenn sie ohne Orientierung gebende und für ihre Sozialisation enorm wichtige und Beispiel gebende „Mannsbilder“ aus- und zurechtkommen müssen.

Wenn Jungen tatsächlich häkeln müssen, statt hämmern zu dürfen, wird erkennbar, dass ihren spezifischen Bedürfnissen nach Handeln, Bewegung und motorischer Anstrengung viel zu wenig Rechnung getragen wird. Schon kleine Korrekturen im Bewusstsein könnten die klar erkennbaren Probleme verringern. Wie Schule sich derzeit gibt, wird sie nach Überzeugung von Dr. Winter von Jungen zu sehr als Spielwiese erlebt und nicht eindeutig genug als Ernstfall wahrgenommen.

Jungen erwarten von ihren Bezugspersonen „Eindeutigkeit, Konsequenz, gerechte Strenge und Strukturen“ und vor allem auch keine „Weichspülpädagogen“, die vor allem „gemocht werden wollen“. Lösungen sieht Dr. Winter nicht in autoritärem Erziehungsstil, sondern vielmehr im bewussten Herstellen einer lern- und entwicklungsfördernden Situation für Jungen an den Schulen. Gute Erfahrungen wurden beispielsweise mit dem temporären Aufheben der Koedukation gemacht. Wenn eine Gruppe getrennt und Jungen und Mädchen ihren Bedürfnissen entsprechend gefördert werden, könne gegebenenfalls ein viel größerer Austausch und Zusammenhalt der gesamten Gruppe erreicht werden.

Dr. Winter ist überzeugt, dass Jungen lieber „coole Loser“ sind als „angepasste, erwachsenenorientierte Streber“. In seiner im März beim Beltz-Verlag Weinheim erscheinen­den Publikation „Jungen - Eine Gebrauchsanweisung“ versucht er Wege aufzuzeigen, sich einer bislang eher vernachlässigten Gruppe von Schülern zu nähern, die das Prinzip „Leis­tung durch Inspiration“ dem deutlich härteren Weg der „Leistung durch Transpiration“ klar vorziehen.