Kirchheim. Beim interdisziplinären Dialog zur Klosterchronik der Magdalena Kremerin im Kirchheimer Rathaus vertrat Nigel Palmer, emeritierter Professor für germanistische Mediävistik aus Oxford, die Disziplin der Literaturwissenschaft. Dabei wagte er es ohne jede Scheu, an einem Tabu zu rütteln und die Autorenschaft der Texturschreiberin Magdalena Kremer in Frage zu stellen.
Am Anfang schildere die Klosterchronik die Einführung der Reform aus der Sicht des Klosters. Eine Stimme des Berichterstatters lasse sich sich dabei nicht vernehmen – „bis zu der Stelle, an der die Nonnen aus Schlettstadt zu Pfingsten 1478 in Kirchheim eintreffen“. Zuvor ist nur in der dritten Person von den „sieben Schwestern“ die Rede, die sich auf den Weg von Schlettstadt nach Kirchheim machen, um dort die Observanz einzuführen. Erst dann gebe es einen Wechsel in der Erzählhaltung, was bereits in der Kapitelüberschrift ersichtlich wird: „Als wir gan kirchen [Kirchheim] in das closter koment“.
Nigel Palmer spricht zwar von zahlreichen „Wir-Belegen“ in der Klosterchronik, deren „Wir“ im Sinne der kollektiven Klostergemeinschaft oder auch im Sinne der Gesamtheit der reformwilligen Schwestern zu verstehen ist. Aber eben dieses „Wir“, das sich auf die sieben Schwestern aus dem Elsass und deren Ankunft in Kirchheim bezieht, ist für ihn ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Verfasserin der Klosterchronik eine dieser sieben Reformerinnen gewesen sein muss.
Für die Annahme dagegen, dass es Magdalena Kremerin gewesen sein könnte, gibt es Nigel Palmer zufolge zwar einen triftigen, aber eben doch nur einen einzigen Grund: „Das Profil der Magdalena Kremer passt aus unserer Sicht biographisch-historisch am besten zur Tätigkeit der Autorin.“ Natürlich spreche nichts dagegen, „dass sie bei der Abfassung der Chronik federführend war“. Aber man könne sie deswegen nicht zwangsläufig im eigentlichen Sinn des Wortes als Autorin der Chronik bezeichnen. Denn nirgendwo im Text gebe es eine Instanz, die den Rang der Autorin für sich in Anspruch nehme.
Alle sieben Schwestern, die als Reformerinnen nach Kirchheim kamen, übernahmen dort wichtige Ämter und Aufgaben. Die Schwester, die unter ihnen besonders hervorragt, ist Barbara Bernheimerin. Schon als Kind war sie ins Kirchheimer Kloster gekommen, wo sie 26 Jahre verbrachte, bevor sie für weitere zwölf Jahre ins Kloster Silo im elsässischen Schlettstadt kam. Dort machte sie sich mit der Observanz vertraut, um diese schließlich in ihrem ursprünglichen Kloster in Kirchheim als dessen neue Priorin einzuführen. – Magdalena Kremerin steht in der Aufzählung der sieben Schlettstädter Schwestern an vierter Stelle. In der Chronik heißt es, dass sie im Kirchheimer Kloster „custerin, texturschreiberin, novitzien meysterin und obersengerin“ wurde. Die Aufgabe als Schreiberin ist eben das, was Nigel Palmer mit dem „passenden Profil“ für ihre Autorenschaft meint.
Schon Christian Friedrich Sattler, im 18. Jahrhundert herzoglicher Archivar, Besitzer der heutigen Stuttgarter Handschrift und erster Herausgeber der Klosterchronik, identifiziere die Autorin mit der Texturschreiberin, stellte Nigel Palmer fest. In dem Artikel über die Klosterchronik, den der mittlerweile verstorbene Tübinger Landeskunde-Professor Sönke Lorenz für das Verfasserlexikon geschrieben habe, werde die Autorin des Werks mit Magdalena Kremer gleichgesetzt. Für Nigel Palmer ergibt sich daraus der Eindruck, „dass die Identifizierung der Autorin als Magdalena Kremerin als völlig unproblematisch angesehen wird“. Er betont aber dennoch, dass es im gesamten Text keinerlei direkte Zuschreibung gibt.
In den wenigen Ich-Botschaften spreche die Autorin nicht autobiographisch über sich. Vielmehr weise sie sich hier nur deshalb in der ersten Person Singular aus, um ihre Vorgehensweise als Verfasserin der Chronik zu rechtfertigen. So heißt es an einer Stelle: „Ich hett ouch dise ding nit geschriben, werent sy nit allem land offenbar worden, des glychen ouch andre, die hie vor geschriben sind.“
Ansonsten präsentiere sich die Autorin das ganze Werk hindurch als eine Nonne, die erzähle, was geschehen und was gesagt worden ist. Zusätzlich aber kommentiere sie das Geschehen immer wieder mit moraltheologischen Erörterungen oder begründe es gar theologisch. Dabei lasse sie auch stets das Bewusstsein ihrer eigenen theologischen Autorität durchscheinen – nicht zuletzt durch die Verwendung von Bibelzitaten.
Zur tatsächlichen Autorenschaft, die ja durchaus der Schreiberin Magdalena Kremerin zukommen kann, konnte und wollte Nigel Palmer nicht Stellung beziehen. Auf Nachfrage sagte er aber, dass er nicht glaube, verschiedene Teile des Texts könnten auf verschiedene Autorinnen zurückzuführen sein. Dafür ist die Chronik wohl doch zu sehr wie aus einem Guss. An ein Autorenkollektiv glaubt er aber ebenfalls nicht. Zumindest will er das nicht aus dem kollektiven Gebrauch des „Wir“ ableiten. Immerhin aber hält er es für denkbar, dass eine Autorin der Schreiberin über die Schulter geschaut haben könnte. Allerdings bliebe dann immer noch die Frage, wer anstelle der Schreiberin die diktierende Autorin war.
Dass die eine oder andere Schwester das Werk gelesen und Verbesserungsvorschläge gemacht haben könnte, lässt sich ebenfalls nicht ausschließen. Immerhin verwies Nigel Palmer in seinem Vortrag auf zahlreiche spätere Zusätze, Verbesserungen oder Streichungen in der Stuttgarter Handschrift. Selbst Randbemerkungen seien schon zur Entstehungszeit angefügt worden. Das schließt der Literaturwissenschaftler aus der Tatsache, dass die Handschrift immer noch den Originaleinband des 15. Jahrhunderts aufweise. Nach dem Binden seien einzelne Buchstaben der Randnotizen aber nicht mehr zu sehen gewesen und deshalb nachträglich ergänzt worden. Das könne eben nur von einer Person vorgenommen worden sein, die den Text auch zuvor schon gekannt habe.
Zur Frage, für wen und zu welchem Zweck die Klosterchronik geschrieben wurde, hatte Nigel Palmer ebenfalls eigene Antworten zu bieten. Er glaubt, dass die Chronik für die Kirchheimer Nonnen bestimmt war, die sich damit identifizieren konnten, insbesondere durch die Aufzählung ihrer Namen. Auf der ersten Seite der Stuttgarter Handschrift seien fünf Schwestern aufgelistet, die nach der Einführung der Observanz ins Kloster eingetreten waren. Auch sei Platz gelassen worden, um die Liste in Zukunft fortsetzen zu können.
Zur Intention der Autorin denkt Nigel Palmer, dass die Schrift die Reformbefürworterinnen im Kloster in ihrer Position bestärken sollte. Andererseits gebe es da noch die Wiener Handschrift, die eine Kopie der Stuttgarter Handschrift darstelle. Nigel Palmer vermutet, dass einer solchen Abschrift die Absicht zugrunde lag, die Geschichte der Kirchheimer Reform als Beispiel an andere Nonnen in auswärtigen Klöstern weiterzugeben – auch wenn sich diese nicht direkt damit identifizieren konnten.
Die Wiener Handschrift ist für Nigel Palmer noch einer eigenen, eingehenden Untersuchung wert, vor allem auch im Vergleich mit der Stuttgarter Handschrift. Aber gerade die Handschrift, die sich heute im Hauptstaatsarchiv Stuttgart befindet, gilt für ihn als „das Referenzexemplar der Kirchheimer Chronik“, wenn nicht sogar als das Original – unabhängig von der Frage der Autorenschaft.