Kirchheim. Dienstagnachmittag, 16.25 Uhr: Vor dem Eingang zum Kirchheimer Weindorf bildet sich
eine Menschentraube rund um Stadtrat Andreas „Anne“ Kenner. „Herzlich willkommen, schön, dass ihr alle da seid“, begrüßt er die Runde, und erinnert sie mit einem Augenzwinkern daran: „Es sind Tische für uns reserviert. Wein gibt‘s aber erst hinterher, das kann sonst ins Auge gehen.“
Eigentlich ist es „nur“ eine kostenlose Stadtführung zum Thema „Kirchheim und sein Wein“ im Rahmen des Weindorfes, aber das Kirchheimer Urgestein Kenner macht sie zu etwas Besonderem, darüber ist man sich hier einig. Mit viel Witz und schwäbischem Charme bringt er sowohl Auswärtigen als auch eingefleischten Kirchheimern die Stadtgeschichte näher, ohne dabei ein langweiliges Zahlenfeuerwerk abzubrennen. „Ich war vor zwei Jahren schon bei einer Führung mit ihm“, gibt eine Teilnehmerin zu. „Er ist großartig.“
„Da, wo die Wahrheit etwas langweilig ist, muss man sie in eine Geschichte einbetten“, erklärt der Kirchheim-Kenner. „Die Leute wollen ja anschließend nicht aufs Weindorf oder nach Hause gehen und dann sagen: Ha ja, s‘isch scho traurig in Kirchheim.“ Der Stadtführer hat sein Publikum dabei wie jeder gute Geschichtenerzähler jederzeit im Griff. Bei den Ausführungen zur Geschichte des Kirchheimer „Südhang“-Weines, zu den Herzögen von Württemberg und von der Teck und weiteren Personen und Begebenheiten ist Kenner in seinem Element. Nicht selten wird herzhaft über die historischen Anekdoten gelacht, die er zu erzählen weiß. So erfahren die Teilnehmer beispielsweise, dass noch vor knapp 150 Jahren der Weinbau in Kirchheim eine größere Rolle gespielt hat als der Obstbau, und Wasser eine kostbare Sache war. In trockenen Zeiten habe man also auch den Kindern Wein zu trinken gegeben. „An der Lateinschule im heutigen Max-Eyth-Haus, das weiß man heute noch, bekam damals jeder Knabe jeden Tag einen Schoppen Wein“, verrät Kenner. „Das sind ungefähr drei Viertele – da lässt sich‘s gut lernen.“
Mit lebhaften Erzählungen und eingestreuten Seitenhieben auf so manche Nachbarstadt („Die kommen ja eh alle hierher, weil bei denen isch ja nix los!“) sorgt Kenner dafür, dass man aus dem Schmunzeln nicht mehr herauskommt. Der große Stadtbrand von 1690, die Ur-Ur-Großmutter von Queen Elizabeth II., Herzog Ludwig von Württemberg und seine Frau Henriette, Black Sabbath in der Kirchheimer Bastion – beim Rundgang durch die Gassen der Altstadt erfahren die Teilnehmer auch abseits des Weines einiges über die Besonderheiten der Teckstadt, ihrer Gebäude und ihrer berühmten Gäste. Wie der SPD-Stadtrat verdeutlicht, sind nicht alle davon in Form von Info-Tafeln in Kirchheim verewigt. Schon Hermann Hesse hat beispielsweise Spaziergänge in der Kirchheimer Innenstadt unternommen. „Hätte er es so gemacht wie Ernest Hemingway und wäre fortgeblieben – wer weiß, vielleicht wäre heute auch eine Bar und nicht nur eine Straße nach ihm benannt“, sagt Kenner, und hat dabei die Lacher auf seiner Seite.
Selbst Kirchheimer, die mit der Geschichte der Stadt bereits vertraut sind, werden noch auf das eine oder andere historische Detail aufmerksam – die kleine, bis heute sichtbare Krone Württembergs über dem Eingang zum früheren Oberamtshaus, das heute eine Außenstelle des Finanzamts ist, oder die „oft übersehenen“ Zierbalken an so manchem Fachwerkhaus beispielsweise. Auch auf die Frage, woher der Brunnenplatz „Maf“ am Roßmarkt eigentlich seinen Namen hat, weiß Kenner eine Antwort: „Hier war die erste italienische Eisdiele in Kirchheim. Daher die Assoziation: Italien, Italiener, die Mafia.“ Passend dazu fällt ihm ein: „Ich hab‘ ja sogar mal ein Lied geschrieben, den Maf-Mauer-Blues. ‚Ischs warm ond trocken, kannsch dich auf d‘ Maf-Mauer hocken‘ – des müsst‘ mer eigentlich mal vertonen.“
Ehe „der Kenner“ seine Stadtführung unter Applaus beendet und zum gemütlichen Teil auf dem Weindorf übergeht, hat er noch eine Ankündigung: „Irgendwann mach‘ ich mal so was wie eine 24-Stunden-Stadtführung, komplett mit Essen und Trinken. Das hab‘ ich mir vorgenommen.“ Wann es so weit ist, steht zwar noch nicht fest. Aber wer weiß – vielleicht wird dann ja auch der „Maf-Mauer-Blues“ zu hören sein.