Im Keller des Kornhauses wird morgen um 11 Uhr die Ausstellung „Armee im Untergang – Württemberg und der Feldzug Napoleons gegen Russland 1812“ eröffnet. Es geht dabei nicht nur um große Politik und große Geschichte. Es geht auch um die Erinnerungen einzelner Soldaten. Zwei von ihnen sind eng mit Kirchheim verbunden.
Andreas Volz
Kirchheim. Die Napoleon-Jubiläen jagen sich derzeit: Eigentlich liegt der Russlandfeldzug des französischen Kaisers schon 201 Jahre zurück. Und eigentlich wird 2013 eher an die Völkerschlacht bei Leipzig erinnert, die im Oktober vor 200 Jahren Napoleons Ende beschleunigt hat. Der Anfang vom Ende allerdings war das Desaster, das Napoleon und seine Grande Armée 1812 in den Weiten Russlands sowie im brennenden Moskau erlitten.
1812 marschierten rund 16 000 württembergische Soldaten mit Napoleon nach Moskau. Die Ausstellung, die letztes Jahr im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart zu sehen war, zeigt auch im Kirchheimer Kornhauskeller beachtliche Originale aus dem Schriftwechsel zwischen Kaiser Napoleon und König Friedrich I. von Württemberg – einem König von Napoleons Gnaden. Der Preis, den Friedrich für die Rangerhöhung und die Gebietserweiterung zu zahlen hatte, war die Bündnistreue zu Napoleon.
Zu sehen sind in Kirchheim einerseits der Rheinbundvertrag, der unter anderem festlegt, dass Württemberg den Kaiser mit 12 000 Soldaten zu unterstützen hat. Andererseits ist der Schriftwechsel ausgestellt, in dem Napoleon eben 16 000 Soldaten anfordert – und schließlich auch erhält. Hinter den Vitrinen können die Ausstellungsbesucher also nicht nur Konzepte in der Handschrift König Friedrichs sehen, sondern auch die Schreiben Napoleons und dessen eigenhändige Unterschrift. „Das sind Papiere, die Napoleon und Friedrich in der Hand hatten“, sagte Kirchheims Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser gestern beim Vorabbesuch der Ausstellung über diese Objekte.
Ein weiterer Vertrag, der ausgestellt ist, ist der Vertrag von Compiègne vom 24. April 1810, in dem Napoleon den württembergischen Gebietszuwachs durch Säkularisation und Mediatisierung bestätigt. Auch die verwandtschaftlichen Beziehung zwischen dem Haus Württemberg und der Familie Bonaparte einerseits sowie der russischen Zarenfamilie andererseits sind dargestellt. König Friedrichs Tochter Katharina zum Beispiel war mit Napoleons jüngstem Bruder, König Jérôme von Westphalen, verheiratet. Friedrichs Schwester Sophie Dorothee wiederum war die Mutter Zar Alexanders I. – Württemberg stand also zwischen den beiden Kriegsgegnern von 1812. Nicht zuletzt kämpften Mitglieder des Hauses Württemberg als Generäle in russischen Diensten.
Der Verlauf des Feldzugs ist auf einer großen Karte dargestellt. Am 11. März 1812 marschierten die Württemberger bei Heilbronn los. Mitte September erreichten sie Moskau, im Januar 1813 bereits kehrten rund 300 württembergische Soldaten in ihre Heimat zurück. Die einfache Entfernung bis Moskau betrug etwa 2 700 Kilometer. Stadtarchivar Brüser stellt dazu fest: „Von März bis Januar waren die fast das ganze Jahr unterwegs.“
Zur Zahl der knapp 300 Rückkehrer bemerkt er allerdings, dass diese Zahl sowohl richtig als auch falsch ist. Die 300 Soldaten waren im Januar 1813 geschlossen zurückgekehrt. Später folgten – teilweise auch einzeln – Soldaten, die in Gefangenschaft geraten oder verwundet worden waren. Insgesamt hätten etwa 1 000 Württemberger den verheerenden Feldzug überstanden. Die Zahlen sind aber immer noch furchtbar genug, denn den 1 000 Überlebenden stehen rund 15 000 Gefallene gegenüber.
Das Stichwort „Gefallene“ könnte allerdings falsche Assoziationen hervorrufen. „Es sind weit mehr Soldaten verhungert, verdurstet, erfroren oder an Krankheiten gestorben als in Schlachten“, sagt Joachim Brüser. Schlachten habe es in diesem Feldzug ohnehin nur wenige gegeben. Kommen die Schrecken des Kriegszugs schon durch die Aufzählung der Todesarten zum Ausdruck, werden sie in der Ausstellung noch durch Reproduktionen zeitgenössischer Zeichnungen und Gemälde verdeutlicht. Insbesondere der Württemberger Christian Wilhelm von Faber du Faur (1780 – 1857) ist hier vertreten. Für Kirchheims Stadtarchivar ist er „kein typischer Schlachtenmaler“. Er male nicht heroisch, sondern zeige alles: also auch Not, Elend und Tod.
Darin unterscheiden sich seine Bilder stark von der Berichterstattung im „Schwäbischen Merkur“. In dieser Zeitung werde 1812 „geschönt, zensiert und fast bis zuletzt nur positiv berichtet“, stellt Stadtarchivar Brüser fest. Die Württemberger hätten zuhause nur von gewonnen Schlachten, aber nichts von Verlusten gehört. Dass ihre Angehörigen schon nicht mehr am Leben waren oder dass sie sich Sorgen um sie machen mussten, erfuhren sie nicht.
Das Elend der Soldaten und des Trosses wird vielleicht besonders eindrücklich angesichts der Tatsache, dass sie vielfach die Nächte im Freien verbringen mussten, bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad Celsius. Bilder, Briefe und Tagebuchberichte schildern Fälle, in denen Menschen über Nacht erfroren waren.
Der Hunger wiederum wird auch 200 Jahre später noch spürbar, wenn aus der rekonstruierten „Speisekarte“ hervorgeht, was die Grande Armée mitunter zu essen bekam: etwa „Pferdefilet frisch vom Kadaver“, „Katzen-Frikassee“ oder „Hundespießbraten“.
Eine Kirchheimer Besonderheit der Ausstellung sind nicht nur zeitgenössische Waffen wie Degen, Pistole und Gewehr aus Beständen des Städtischen Museums, sondern auch die Regimentskasse, die der gebürtige Kirchheimer Johann Gottlieb Kugler (1792 – 1854) von Moskau wieder zurück in seine Heimat brachte.
Der andere namentlich bekannte Kirchheimer, der den Feldzug überlebte, war Friedrich Wilhelm von Völter (1786 – 1861). Er kam zwar erst nach Ende der napoleonischen Kriege nach Kirchheim, blieb dafür aber sein restliches Leben in der Teckstadt. An ihn erinnert bis heute sein Grabmal auf dem Alten Friedhof in Kirchheim. Außerdem hat er ein Aufzeichnungen hinterlassen. Seine handschriftlichen Notizen stehen in einem gedruckten Tagebuchband von Christian von Martens. Dieser württembergische Offizier war einer von vielen, der seine Erinnerungen aufgeschrieben und dazu auch Aquarelle angefertigt hatte. Seine Texte wurden sogar ins Englische und ins Französische übersetzt.
Major Völter jedenfalls hat unter anderem eine Operation festgehalten, der er sich am 15. Oktober 1812 unterziehen musste. Um zu verdeutlichen, wie man sich das praktisch vorzustellen hat, ergänzte sein Enkel später, dass es damals keine Narkose gab. Die Operation erfolgte also bei vollem Bewusstsein. Sämtliche damit verbundenen Schmerzen waren schlichtweg auszuhalten.
Für einen prominenten Württemberger war eine Krankheit höchstwahrscheinlich sogar die Rettung: Der Kronprinz und spätere König Wilhelm I. erkrankte bereits auf dem Hinweg in Polen an der Ruhr. Nachdem er die lebensbedrohliche Krankheit überstanden hatte, ging es für ihn sofort zurück. Ob er den gesamten Feldzug überlebt hätte, weiß keiner: Immerhin endet die Ausstellung nicht nur mit der Wiedereingliederung der Überlebenden in die württembergische Gesellschaft, sondern auch mit ärztlichen Berichten über Verwundete und mit Totenscheinen.