Kirchheim. Viel gelesen, viel verehrt aber auch viel geschmäht, einsam und eigensinnig, als Kind willensstark, schwierig und „ein Dorn im Fleisch seiner pietistischen Eltern“, das Bild, das Dr. Waltraud Falardeau
auf Einladung des Literaturbeirats im Kornhaus von Hermann Hesse zeichnete, hätte facettenreicher und vielseitiger nicht sein können.
Kenntnisreich, konturenscharf und kurzweilig gewährte sie Einblicke in Hesses nie gradliniges Leben, lieferte unaufdringliche Interpretationshilfen und führte souverän durch sein in viele Sprachen und unterschiedlichste indische Dialekte übersetztes Werk. Treffsicher ausgewählte Texte und melodiös rezitierte Gedichte wechselten mit der dezenten Begleitmusik, die das sorgfältig zusammengestellte Porträt einer schillernden Persönlichkeit zum musikalisch-literarischen Gesamtgenuss werden ließen.
„Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden“ war die Matinee zum 50. Todestag des mit Kirchheim eng verbundenen Schriftstellers überschrieben. Nicht ausgespart wurde, mit welcher Konsequenz er sich der Schule verweigerte, in der von Friedrich Blumhardt geleiteten „Anstalt Bad Boll“ einen ersten Suizidversuch unternahm und schreckliche Zeiten in der Nervenheilanstalt Stetten im Remstal durchleiden musste.
„Ist es recht, einen jungen Menschen, der außer einer kleinen Schwäche der Nerven so ziemlich gesund ist, in eine Heilanstalt für Schwachsinnige und Epileptische zu bringen, ihm gewaltsam den Glaube an Liebe und Gerechtigkeit und damit an Gott zu rauben“, hatte sich „der Gefangene im Zuchthaus Stetten“ gefragt.
„Könntet Ihr in mein Inneres blicken, in diese schwarze Höhle, in der der einzige Lichtpunkt höllisch glüht und brennt, Ihr würdet mir den Tod wünschen und gönnen“, war Hesse überzeugt. Der ihm unerträglich gewordenen Enge Calws entfliehend, setzte er seine Hoffnung in fernöstliche Weisheiten. Auch wenn er nie in Indien war, wurde Hesse zur gefeierten und verehrten Kultfigur einer ganzen (Hippie-)Generation.
Umtriebig, neugierig und abenteuerlustig war der „Ruhelose, Reisende, Vagabund und Nomade“ zugleich „Künstler, Phantasiemensch und Visionär“. Immer aber blieb Hesse ein verzweifelt Suchender, der sich den Errungenschaften der Moderne genauso verschloss, wie er „die wachsende Vermassung und Neurotisierung der Menschen“ kritisierte. Zeit seines Lebens blieb er auch „ein Verfechter der Individualität, des eigenen Weges, der Bereitschaft zu Aufbruch und Wandlung“.
Erst im Alter hatte Hermann Hesse Frieden mit sich selbst gefunden. „Ich muss anderen Suchenden die Welt bestehen und verstehen helfen“, lautete seine in unzähligen Krisen gewachsene Erkenntnis. Dass er bei seiner verzweifelten Suche nach dem Glück oder auch nur dem Wesen des Menschen immer wieder an seine Grenzen gestoßen war, vergaß er aber nie. „Wir können einander verstehen, aber deuten kann sich nur jeder selber“.
Von Sabine Bartl (Querflöte) und Gabriele Hermann (Cembalo) kongenial musikalisch unterstützt, weckte die fundierte Hesse-Kennerin, Literatur- und Erziehungswissenschaftlerin Dr. Waltraud Falardeau Erinnerungen an die ihresgleichen suchende Biografie eines widersprüchlichen Literaten, der sich schon im Alter von 13 Jahren zum Dichter geboren fühlte, doch immer wieder an seinem eigenen Wesen zu scheitern drohte. Schon im Alter von vier Jahren hatte er seine Mutter beeindruckt durch „sein Leben, seine Stärke, seinen Willen“ und den für sein Alter schon überdurchschnittlich ausgeprägten „erstaunlichen Verstand“. Zugleich bereitete er ihr großen Kummer und berechtigte Sorgen um seine Zukunft.
„Es zehrt mir ordentlich am Leben dieses innere Kämpfen gegen seinen hohen Tyrannengeist, sein leidenschaftliches Stürmen und Drängen.“, schrieb seine Mutter im August 1881. „Gott muss diesen stolzen Sinn in Arbeit nehmen, dann wird etwas Edles und Prächtiges draus, aber ich schaudere bei dem Gedanken, was bei falscher oder schwacher Erziehung aus diesem jungen passionierten Menschen werden könnte.“
Dass der rebellische Schulverweigerer dereinst Träger des Nobelpreises für Literatur werden sollte, dessen Werk sich nach Aussage der Schwedischen Akademie Stockholm „immer kühner und eindringlicher entwickelte und die Ideale des klassischen Humanismus ebenso wie eine hohe Kunst des Stils offenbart“, hätte kaum jemand geglaubt. In ihr faszinierendes Porträt packte die mitreißende und zugleich gut unterhaltende Dozentin für Pädagogik und Literatur eine ungeheure Fülle an Informationen und fesselte ihr Publikum durch die rhetorisch-literarische Qualität ihrer Ausführungen genauso wie durch die Akkuratesse der von ihr mit sicherem Gespür ausgewählten und rezitierten Textpassagen.
In ihrer klar strukturierten Poesie-Vorlesung entführte sie ihr Publikum in ferne Welten, suchte aber immer auch die Verbindungen aufzuzeigen, die der Kosmopolit zu Kirchheim und seiner direkten Umgebung hatte. Dass die in „Lulu“ unsterblich gemachte Kastanienstadt keineswegs nur der Handlungsort einer kaum erwiderten jugendlich-schwärmerischen Liebelei war, dürften viele der Besucher mit großem Interesse zur Kenntnis genommen haben.
Wie Waltraud Falardeau ausführte, folgte den glücklich-unschuldigen Tagen der Begegnung in Kirchheim eine lange Jahre währende Freundschaft zwischen Hesse und seiner „Lulu“. 77 der in dieser Zeit an sie geschriebenen Briefe hat Julie Hellmann gemeinsam mit Fotos, Aquarellen und Zeichnungen dem Literaturmuseum in Marbach übergeben. Das wäre sicher ein Thema, mit dem das eingespielte Trio gerne ein weiteres Mal für volle Ränge im Kornhaus sorgen dürfte.